Auf dünnem Eis: Die Psychologie des Bösen (German Edition)
überlegen zu sein. Nur solange sie sich selbst als besser und überlegen empfinden, haben sie Macht und Kontrolle über andere. Dieses Bedürfnis rührt aus ihrer Kindheit.
Als Kinder haben sich alle psychopathischen Menschen irgendwann hilflos gefühlt, anderen ausgeliefert und unterlegen. Daraus erwuchs das starke Verlangen, sich nie wieder so zu fühlen. Je überlegener und mächtiger sie sich jetzt, als Erwachsene, wahrnehmen und darstellen, umso weiter sind sie von diesen Kindheitserfahrungen entfernt.
Ihre Mitmenschen zu beeinflussen, mit ihren Gefühlen zu spielen, ist für psychopathische Menschen viel mehr als nur Mittel zum Zweck. Damit beweisen sie sich immer wieder, dass nun sie Macht über die anderen haben. Zwei meiner nicht-kriminellen, psychopathischen Interviewpartner beschreiben dies sehr eindrücklich in Bezug auf ihre Sexualität. Sie sind beide Sadisten, für die Macht über ihre Sexualpartnerin der Kick überhaupt ist.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht alle sexuellen Sadisten sind psychopathisch, und nicht alle Psychopathen sind sexuelle Sadisten. Doch es gibt definitiv eine »Schnittmenge« von Menschen mit beiden Eigenschaften, sowohl bei kriminellen Sadisten als auch bei solchen, die, wie meine Interviewpartner, nichts gegen den Willen ihrer Sexualpartnerinnen tun.
Die Idee meines Interviewpartners Boris, besonders große und mächtige Firmen durch Briefbomben in Angst und Schrecken zu versetzen, veranschaulicht das typisch psychopathische Motiv, besonders große Macht haben zu wollen. Je größer und mächtiger das ist, worüber der psychopathische Mensch Macht hat, desto größer und mächtiger ist er damit selbst.
Nach diesem Prinzip wählte auch der als »Inzestmonster von Amstetten« bekannt gewordene Josef Fritzl sein Opfer aus. Eine seiner Töchter sperrte er für 24 Jahre im Keller seines Hauses ein; er vergewaltigte sie immer wieder brutal und zeugte mit ihr sieben Kinder. Diese Tochter sah er in seiner gestörten Gedankenwelt im Unterschied zu den anderen als »gleichwertige Gegnerin« an. Über sie sagte er: »Die war so stur wie ich, die war so stark wie ich.«
Wenn man dieses Machtprinzip – dem alle psychopathischen Menschen auf die eine oder andere Art folgen – versteht, wird der »Altersvorsorge-Plan« von Boris etwas nachvollziehbarer. In seiner Phantasie verbindet er das »Angenehme« mit dem »Nützlichen«. Angenehm wäre es für ihn, sich möglichst große Macht durch seine »Briefbomben-Aktion« zu beweisen und damit vielleicht sogar berühmt zu werden. Nützlich wäre es, im Alter grundlegend versorgt zu sein.
Typisch psychopathisch geht Boris hier nach dem »Kosten-Nutzen-Prinzip« vor: Wenn er alt und arm ist, denkt er, sind die Kosten – also Nachteile – eines Gefängnisaufenthaltes bis zum Lebensende nicht mehr allzu groß für ihn. Der persönliche Nutzen aus der »Briefbomben-Aktion« wäre hingegen sehr groß. Es wäre ein ultimativer Machtbeweis, der sein psychopathisches Grundbedürfnis sehr gut befriedigen könnte. Somit scheint dieser Plan, aus Boris’ Gedankenwelt heraus betrachtet, eine durchaus »vernünftige« Idee für seine »Altersversorgung« zu sein.
Wenn Schuldgefühle keine Rolle spielen
Boris trug mir seinen Plan sehr genau und ohne die geringsten Gefühle zu zeigen vor. Sowohl den genauen Bau der Briefbomben als auch ihre Wirkung auf mögliche Opfer beschrieb er, als erkläre er mir die Bedienungsanleitung eines Fernsehers. Wie auch andere meiner psychopathischen Interviewpartner befasst sich Boris seit seiner Jugend mit den Möglichkeiten, Menschen zu foltern und zu töten. Er interessiert sich bis ins kleinste Detail für Waffen, Gifte, Folterwerkzeuge und Ähnliches.
Die Vorliebe zumindest einiger psychopathischer Menschen für diese Dinge hängt einerseits mit ihrem Bedürfnis nach möglichst großer Macht zusammen. Andererseits tragen sie alle – mehr oder weniger bewusst – die Wut über gravierende Erlebnisse in ihrer Kindheit mit sich herum, bei denen sie sich anderen Menschen ausgeliefert fühlten. Aus dieser Wut entwickeln sich Rachegefühle, die psychopathische Menschen auf unterschiedliche Weise gegenüber unterschiedlichen Personen ausleben.
Boris’ extremer Plan für seine »Altersversorgung« beinhaltet auch, dass er durch Briefbomben die in ihm steckende Wut im wörtlichen Sinne »explodieren« lassen könnte. Er richtet die Wut gegen ein Ziel, mit dem er ohnehin negative Gefühle verbindet:
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