Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
Ebenso wurde ein Foto der kleinen Hornbrille veröffentlicht. Zum Bedauern der Polizei handelte es sich dabei aber um ein Modell, das damals sehr viele Menschen trugen. Das einzige auffällige Merkmal war, dass die Enden der Halterung so aussahen, als habe jemand hin und wieder nervös darauf herumgekaut. Da man wirklich alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen wollte, wurden auch Brillenhersteller um Hilfe gebeten.
Nathan und Richard versuchten sich noch einzureden, sie hätten die Sache trotz aller unvorhergesehenen Entwicklungen halbwegs im Griff. Ihr wirklichkeitsverzerrter Glaube, alle anderen Menschen seien einfach so viel dümmer als sie, dass niemand ihnen etwas anhaben könnte, ließ sie sich noch halbwegs sicher fühlen. Wie Sie an dem Erpresserbrief gesehen haben, hilft aber alle Intelligenz der Welt einem Täter nicht weiter, wenn er eine sehr auffällige Persönlichkeit hat. Egal wie schlau er ist, diese Persönlichkeit leitet immer wieder sein Verhalten. Dies demonstrierte Richard, als er die Tat schon zwei Tage später in seinem Größenwahn nutzte, um sich vor seinen Kommilitonen als besonders klug aufzuspielen.
Richard war in einer Studentenverbindung, der auch einige junge Männer angehörten, die als Reporter für verschiedene Zeitungen arbeiteten. Am Freitagmorgen schlug er einem seiner Verbindungsbrüder vor, sie könnten doch spaßeshalber selbst »ermitteln«. Inzwischen war öffentlich geworden, dass die Täter ein Taxi zu einem Drugstore hatten schicken wollen; unklar blieb nur, zu welchem. In einer großen Stadt wie Chicago gab es unzählige Drugstores. Richards Vorschlag endete damit, dass er mit dreien seiner schreibenden Verbindungsbrüder nach einer von ihm aus Kriminalromanen zusammengeschusterten Logik Drugstores abklapperte und die Betreiber befragte, ob ihnen etwas Besonderes aufgefallen war.
Nach mehreren »Fehlversuchen« landeten sie tatsächlich im richtigen Geschäft und erhielten die Auskunft, dass dort am betreffenden Tag zwei merkwürdige Anrufe eingegangen waren. So stand Richard – clever inszeniert – vor den jungen Reportern als schlauer Held da, der etwas Sachdienliches zum Fall entdeckt hatte.
Zu diesem Zeitpunkt kam allerdings keiner seiner Verbindungsbrüder auf die Idee, er selbst könne der Täter sein. Wie so oft in solchen Fällen können die meisten Menschen einfach nicht glauben, dass jemand, den sie kennen, ein so unvorstellbar grausames Verbrechen begehen kann. In diesem Fall kam hinzu, dass die Polizei der Presse mitgeteilt hatte, das Tatmotiv sei offensichtlich Habgier. Da Richard bekanntermaßen sehr reich war, machte es also überhaupt keinen Sinn, dass er mit dem Mord zu tun haben könnte.
Deshalb fanden seine Verbindungsbrüder eine Bemerkung von Richard, direkt nachdem sie die Drogerie gefunden hatten, zwar nicht sehr sympathisch, aber auch nicht verdächtig. Da sie wussten, dass er in der gleichen Gegend lebte, fragten sie ihn, ob er den Jungen gekannt habe. Richard bejahte sofort und fügte lächelnd hinzu: »Wenn ich vorhätte, jemanden zu ermorden, dann würde ich so einen überheblichen kleinen Hurensohn wie Bobby Franks töten.«
Zur gleichen Zeit befragte die Polizei den Jagdaufseher des Gebietes, wo Roberts Leiche gefunden worden war. Der erzählte unter anderem, dass sich dort häufiger ein junger Mann namens Nathan Leopold aufhalte, um Vögel zu beobachten. Nathan erklärte auf Befragen völlig ruhig und plausibel, dass er ein begeisterter Vogelkundler sei und über den Mord nichts wisse. Seine Familie war reich und angesehen, auch bei ihm konnte man das Motiv Habgier also ausschließen. Daher ging die Polizei der Sache nicht weiter nach.
Dann kam die entscheidende Wende – durch ein winziges Detail. Inzwischen hatte die Polizei mithilfe von Herstellern herausgefunden, dass das Modell der Hornbrille zwar weit verbreitet war. Doch das Scharnier der Brille hatte eine Besonderheit: Es war eine seltene Ausführung, nicht zu erkennen für jemanden, der kein ausgesprochener Fachmann war. So stellte sich heraus, dass im gesamten Gebiet von Chicago nur genau drei Brillen dieses Modells mit ebendiesem besonderen Scharnier verkauft worden waren. Es gab Unterlagen dazu, wer die Käufer waren. Die Polizei staunte nicht schlecht, als sie die Liste mit den drei Namen in die Hand bekam. Einer davon war Nathan Leopold.
Der ausschlaggebende Beweis: Nathans Brille.
Zwei Kontrollfreaks verlieren die Kontrolle
Der Staatsanwalt wollte den
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