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Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Titel: Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Benecke
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anders entscheiden können.
    Vielleicht erscheint das auf den ersten Blick als ziemlich umständlicher und abwegiger Gedankengang. Er wird verständlicher anhand eines ziemlich tragischen Kriminalfalles, mit dem ich noch als Studentin zu tun hatte. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt, im letzten Teil meines Psychologiestudiums, und machte das schon erwähnte Praktikum in einem Gefängnis. Es war das erste Mal, dass ich mit echten Straftätern arbeitete, und es waren direkt die schwersten Kaliber: ausschließlich Sexual- und Gewaltstraftäter.
    Das Erste, was ich dabei über mich lernte: Meine Faszination dafür, was mit diesen Menschen los war, wo sie »kaputt« waren und mit welchen »Werkzeugen« man sie wieder »reparieren« könnte, gab mir bei der Arbeit ein gutes Gefühl. Ich wusste sofort, dass mich die Arbeit weder ängstlich noch traurig oder wütend machte. So etwas weiß man erst sicher, wenn man es ausprobiert. Egal, wie viele Bücher und Filme man vorher zum Thema »konsumiert« hat, die Wirklichkeit ist immer anders.
    Der Fall, der mich am Anfang meiner Arbeit mit Straftätern besonders prägte, war eine dieser Geschichten, bei denen man als Beobachter vor einem Haufen Leid und Ungerechtigkeit steht. Wenn man, wie ich, viele solcher Geschichten in seinem Leben mitbekommt, kommt man irgendwann zu der Einsicht: Entweder es gibt Gott nicht, oder er ist ein sadistisches Arschloch. Dies ist einer von mehreren Gründen, warum ich mich inzwischen als Atheist sehe.
    Fast gleichzeitig mit meiner Ankunft als Praktikantin wurde in dem Gefängnis ein junger Mann untergebracht, der beinahe auf den Tag genauso alt war wie ich. Als ich mehr über seinen Fall erfuhr, fanden sich weitere Parallelen in unseren Lebensläufen:
    Wir waren beide in armen Verhältnissen in einer Ghettosiedlung aufgewachsen, beide ohne Vater bei alleinerziehenden Müttern, die sich nicht so um die Kindererziehung kümmern konnten, wie es der Fall hätte sein sollen. Unsere Ausgangsbedingungen waren in vielen Punkten also erstaunlich übereinstimmend. Doch er hatte mehr Pech als ich. Als Kind geriet er an einen Mann, der die Kinder in diesem Ghetto betreute und besonders jene an sich zog, die sich am stärksten nach Stabilität, Aufmerksamkeit und Zuwendung durch einen Erwachsenen sehnten. Dieser Mann war – wie wir Psychologen es nennen – »kernpädophil«. Das bedeutet, er suchte als sexuelle und partnerschaftliche Gegenüber ausschließlich Kinder, die noch nicht in der Pubertät waren.
    Den Rest der traurigen Geschichte kann man sich denken, auch wenn dieser Fall in seinen Details ganz besonders abenteuerlich wurde. Der Mann »kümmerte« sich um den verwahrlosten Jungen und dessen jüngeren Bruder, er wurde ihnen zur einzigen Bezugsperson, zum Vaterersatz und zum Lehrer. Leider verlangte er dafür, was uneinsichtige »Kernpädophile« stets von den Kindern einfordern, die sie emotional an sich binden: sexuelle Nähe und Befriedigung. Dass die Kinder sich oft nicht dagegen widersetzen und, egal was passiert, immer wieder zu ihren Missbrauchstätern zurückkommen, deuten jene uneinsichtigen Täter oft zu ihrer eigenen Entlastung als »Freiwilligkeit«. Sie reden sich ein, die Kinder würden doch »nein« sagen und nicht immer wieder ihre Nähe suchen, wenn sie unter dem sexuellen Missbrauch wirklich litten.
    Das ist eine typische grauenvolle Verzerrung dessen, was mit den Missbrauchsopfern wirklich passiert: Kinder, die sich für die Annäherungsversuche von Missbrauchstätern besonders empfänglich zeigen, sind in vielen Fällen ohnehin schon unsicher und werden körperlich und/oder emotional vernachlässigt. Deshalb sehnen sie sich nach genau der Sicherheit, Wertschätzung und Geborgenheit, die der Täter ihnen zunächst zu versprechen scheint. Schnell werden sie emotional abhängig von ihm. Ist dies erst passiert, tun sie alles dafür, dass er sie nicht verlässt. Sie bieten ihm alles, was er sich wünscht, ohne Widerspruch und scheinbar freiwillig, weil sie ihn nicht enttäuschen, verärgern und unter gar keinen Umständen verlieren wollen.
    Genau dies passierte in der Kindheit mit dem jungen Mann, dem ich im Gefängnis begegnete. Er und sein Bruder waren bei dem älteren Mann – der auch noch eine pädagogische Ausbildung hatte – praktisch aufgewachsen. Was er ihnen bot, war ein groteskes Zerrbild von »Familienleben«: Zuwendung, Hilfe bei den Hausaufgaben, regelmäßiges Essen, saubere neue Kleidung, Urlaube, Spielen und Kuscheln

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