Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
geht.
Auch ich sehe eine persönliche Schuld bei Straftätern, die sich für ihre Tat entschieden haben, obwohl sie eine andere Entscheidung hätten treffen können. Doch wenn ich mit ihnen arbeite, will ich in erster Linie verstehen, was bei ihnen »kaputt« ist. Welche ihrer Eigenschaften führte dazu, dass sie diese Tat begingen? So kann ich etwas aus dem Fall lernen und sehen, ob dieses kaputte Etwas in ihnen mit einer Therapie so weit »reparierbar« ist, dass sie dauerhaft niemanden mehr gefährden. Bei dieser Arbeit wäre es nicht nur kein Vorteil, sondern sogar ein großes Hindernis, wenn ich persönliche Wutgefühle gegenüber dem Täter empfinden würde.
Wenn ich ein Verbrechen als Gesamtbild betrachte, ist es für mich ein interessantes »Logikrätsel« – wie für andere Sudoku. Als Ergebnis möchte ich verstehen, welche Eigenschaften des Täters, manchmal auch welche Eigenschaften des Opfers und welche Merkmale der Situation in welchem Zusammenhang standen, sodass der Täter diese Tat zum Zeitpunkt X an genau diesem Opfer begangen hat. Würde ich mir zu viele Gedanken um die persönliche Schuld oder das verursachte Leid machen, dann würde mir dieser Beruf nicht nur keinen Spaß machen, sondern ich könnte ihn nach kürzester Zeit nicht mehr ausüben.
Die Frage nach Gerechtigkeit
Gerechtigkeit, Rache, Sühne: Dies sind Themen, die Menschen im Zusammenhang mit Straftaten stark beschäftigen. Sie wollen glauben, dass es so etwas wie Gerechtigkeit auf irgendeiner Ebene in der Welt gäbe. Ich glaube das schon sehr, sehr lange nicht mehr. Gerechtigkeit würde, kurz gesagt, bedeuten, dass Menschen, die eigentlich gute Menschen sind, davor bewahrt werden sollten, etwas Schlimmes zu erleben. Andererseits sollten Menschen, die etwas Böses tun, dafür eine angemessene Strafe erhalten.
Nur gibt es, wie Sie inzwischen wissen, meiner Meinung nach noch nicht einmal wirklich »gute« und »böse« Menschen. Menschen und Verbrechen sind oft nicht das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Je näher man sie betrachtet, je mehr man sie in »psychologische Bausteine« aufspaltet, umso mehr verschwimmen Begriffe wie »gut« und »böse«. Am Ende bleibt nur die Erkenntnis, dass Gerechtigkeit in Wirklichkeit ein rares Gut ist.
Will man die Kausalketten von persönlichem Leid und Unglück, die zu einer Straftat führen, auseinandernehmen, dann stößt man meist auf ein Gewirr aus Ungerechtigkeit, Tragik und traumatischen Ereignissen. Sehr vereinfacht zusammengefasst: Schwere Straftäter, also solche, die Gewalt- und Sexualverbrechen begehen, beginnen ihr Leben in den allermeisten Fällen als Kinder einer kaputten Familie. Sie werden an Körper und/oder Seele verletzt und zerstört. Dadurch entwickeln sie Eigenschaften, die für sie selbst und für ihre Umwelt verhängnisvolle Auswirkungen haben.
Ich betone auch an dieser Stelle: Es geht hier nicht um »Ausreden« und »Entschuldigungen«. Eine schwierige Kindheit in einem schwierigen Umfeld hatten viele Menschen – ich bin selbst einer davon. Tatsache ist aber: Die meisten schweren Straftäter entwickeln aufgrund ihrer Lebensgeschichte ungünstige Persönlichkeitseigenschaften. Diese Eigenschaften sind meist eine wichtige Ursache für ihre späteren Taten. Doch hätten sie auch mit solchen Eigenschaften in sehr vielen Fällen anders entscheiden können. Dass sie zumindest eine schwerwiegende, falsche Entscheidung trafen, bleibt unbestritten, auch wenn das Leben vorher »ungerecht« zu ihnen war. Unser Justizsystem ist dafür zuständig, dass sie eine Strafe für ihre Schuld abbüßen müssen.
Doch Gerechtigkeit wird dadurch im Grunde auch nicht hergestellt. Die Bestrafung eines Täters kann das Leid des Opfer, seiner Angehörigen und auch das Leid der Angehörigen des Täters nicht wiedergutmachen. Kurz: Gerechtigkeit ist für mich so wirklich wie Feen und Trolle und die Zaubersprüche eines Harry Potter.
Butterfly-Effect
– Was, wenn du in den Schuhen des anderen gelaufen wärest?
Je nach Fall gibt es Täter, die aus meiner Sicht mehr oder weniger »Spielraum« in ihrer freien Entscheidung hatten. Sie hätten mit großer Wahrscheinlichkeit nie eine Straftat begangen, wenn bestimmte Umstände ihre Persönlichkeit in eine andere Richtung ausgeformt hätten. Dadurch hätten sie die falsche Entscheidung, die sie getroffen haben, niemals treffen müssen. Sie wären gar nicht in die Situation gekommen, diese Entscheidung zu treffen, oder sie hätten sich
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