Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
wissenschaftlich bewiesen, dass mit dem richtigen Wissen und den geeigneten Methoden Menschen sich so stark verändern können, dass sie für niemanden mehr gefährlich sind. Das ist möglich, nachdem sie eine Straftat begangen haben, aber auch schon vorher. Projekte wie »Kein Täter werden«, in denen Männer sich freiwillig um eine Therapie bemühen, weil sie fürchten, sie könnten zu Straftätern werden, beweisen, wie sinnvoll diese Arbeit ist.
Nicht alle Straftäter lassen sich therapieren. Jene, bei denen es nicht möglich ist, müssen ihr Leben lang eingesperrt bleiben. Doch das sind die wenigsten.
Anders zu sein sinnvoll nutzen
Ich habe versucht zu erklären, warum es der Gesellschaft nützt, dass es Menschen gibt, die mit schrecklichen Straftaten weniger gefühlsgeleitet umgehen können. Wie ungewöhnlich dies ist, wurde mir mit der Zeit immer stärker bewusst, anhand von Situationen, welche die meisten Menschen mit »normalen« Gefühlen äußerst seltsam finden.
Kriminalbiologe Mark Benecke erzählte beispielsweise bei Vorträgen manchmal von einer Begebenheit, die für das Publikum kaum vorstellbar ist. Er saß mit einer Mitarbeiterin gerade im Labor und untersuchte den Mageninhalt eines Verstorbenen. Ich kam dazu, ohne zu wissen, woran die beiden arbeiteten, nahm einen Geruch wahr und sagte: »Habt ihr gerade Kakao getrunken?« Die Mitarbeiterin sagte: »Nein, wir untersuchen den Mageninhalt hier. Stimmt, es riecht auch irgendwie nach Kakao. Vielleicht hat der Verstorbene kurz vor seinem Tod Kakao getrunken.« Ich schaute mir kurz den Mageninhalt an, war gedanklich aber immer noch beim Thema »Kakao« und sagte: »Hab ewig keinen Kakao mehr getrunken. Hätte jetzt Lust auf einen. Ich mache mir in der Küche gleich eine Tasse. Wenn ich schon dabei bin, möchte einer von euch auch eine?« Darauf die Mitarbeiterin: »Stimmt, Kakao wäre nicht schlecht, ich würde auch einen mittrinken.« Für mich ist diese Situation so alltäglich, dass ich sie gar nicht bewusst erinnern würde, wenn mir nicht inzwischen klar wäre, dass die meisten Menschen entsetzt darüber sind. Sie würden es widerlich finden, an Kakaotrinken auch nur zu denken, nachdem sie den nach Kakao riechenden Mageninhalt eines Toten direkt vor sich gesehen haben.
Eine ähnliche Situation ergab sich, als ich mit Mark und Anny Sauvageau, einer befreundeten kanadischen Gerichtsmedizinerin, an einem Forschungsprojekt arbeitete. Anny gründete die internationale »Arbeitsgruppe zur Untersuchung des menschlichen Erstickungstodes«, um die genauen Abläufe im Gehirn während der Erstickung wissenschaftlich zu untersuchen. Dafür wertete sie mit den Mitgliedern dieser Arbeitsgruppe – zu der Mark und ich gehören – weltweit Videos aus, auf denen Menschen durch Erhängungen starben. Die Verstorbenen hatten sich selbst gefilmt. Unter den Videos waren einige Suizide, die meisten waren aber tödliche autoerotische Unfälle.
Solche Unfälle passieren, wenn Menschen – in den allermeisten Fällen Männer – sich in selbst gebastelte Vorrichtungen hängen, um beim Onanieren ihre Luftzufuhr abzuschnüren. Dadurch erleben sie einen besonderen sexuellen »Kick«. Zwar tüfteln diese Menschen oft sehr kreative Vorrichtungen aus, mit denen sie meinen sicher zu sein. Doch in sehr vielen Fällen versagt der »Sicherheitsmechanismus«, und sie kommen zu Tode. Dies passiert auf der ganzen Welt so häufig, dass Polizeibeamte in der Regel einen tödlichen autoerotischen Unfall schnell als solchen erkennen. Prominente Opfer dieser sexuellen Spielart sind der Schauspieler David Carradine – bekannt aus den »Kill Bill«-Filmen – und der INXS-Sänger Michael Hutchence.
Anny reiste eine Woche lang mit Mark und mir durch Deutschland, um in verschiedenen Polizeidienststellen Videos auszuwerten. Findet die Polizei bei einem Todesfall ein solches Video, so wird es mit der Akte des Falles zusammen in der Dienststelle aufbewahrt – natürlich unter Verschluss. Deshalb mussten wir persönlich zu den Dienststellen, die sich an dem Forschungsprojekt beteiligten. Anny ging es um die genauen Bewegungsabläufe der Menschen, die auf diese Weise starben. Beim Erstickungstod fährt das Gehirn wie ein Computer langsam Stück für Stück herunter, erkennbar an unwillkürlichen Bewegungen, die alle Sterbenden in derselben Reihenfolge machen. Mithilfe ihrer Arbeitsgruppe fand Anny heraus, dass es beim Tod durch Erhängen sieben bis dreizehn Sekunden dauert, bis ein Mensch
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