Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
bewusstlos wird. Danach folgen die besagten, vom sterbenden Gehirn ausgelösten Bewegungen. Es dauert insgesamt ein- bis zweieinhalb Minuten, bis die letzten deutlichen Bewegungen vorbei sind.
Anny und ich setzten uns in jeder Polizeidienststelle ungefähr fünfundvierzig Minuten lang vor den Rechner und schauten uns die Videos immer und immer wieder an. Dabei schrieben wir unabhängig voneinander in eine Tabelle, welche der typischen Bewegungen wir nach wie vielen Sekunden erkannten. Da die Bildqualität nicht immer die beste war und verschiedene Bewegungen – wie das Verkrampfen von Armen und Beinen – teilweise gleichzeitig ablaufen, mussten wir die Aufnahmen immer wieder anhalten, genau hinschauen, weiterlaufen lassen und so weiter. Wenn wir beide der Meinung waren, unsere Tabellen vollständig ausgefüllt zu haben, verglichen wir unsere Ergebnisse. Mark schaute sich die Videos dann ebenfalls an, und wir diskutierten zu dritt.
Viele der Polizeibeamten, die uns freundlich empfingen, waren etwas irritiert vom Aussehen unserer kleinen Forschungsgruppe: Mark mit seinem langen, schwarzen Ledermantel und seinen Tätowierungen. Anny, die ebenso wie ich keine 1,60 m groß ist und ebenso wie ich meist jünger geschätzt wird, als sie tatsächlich ist. Ihre langen, blonde Haare trägt sie meistens offen zu ihrer stets stilvoll-adretten Kleidung. Mit diesem Erscheinungsbild könnte sie eine Darstellerin der bekannten Anwalts-Fernsehserie »Ally McBeal« sein. Ich, damals siebenundzwanzig, mit langen, roten Haaren und schwarzer Kleidung, die eindeutig dem Stil der Gothic-Subkultur zuzuordnen ist. Noch mehr als das Aussehen befremdete einige Polizeibeamte aber unser Verhalten.
Sie wussten zwar, dass wir die Videos auswerten wollten, sie wussten auch, warum. Doch der eine oder andere Polizeibeamte wirkte schon etwas verwundert. Zwei kleine, mädchenhaft aussehende Frauen so lange interessiert, aber keineswegs gefühlsmäßig berührt vor diesen Videos sitzen zu sehen, erschien ihnen doch irgendwie ungewöhnlich. Vor allem wenn wir erzählten, dass wir dies nun eine Woche lang tun würden, jeden Tag an einem anderen Ort. Mehr als einmal wurde uns daher »beiläufig« die Frage gestellt, ob wir es als Wissenschaftlerinnen nicht doch belastend fänden, uns so lange und so genau Videos anzuschauen, auf denen wir Menschen langsam sterben sehen. Unsere Antwort war schlicht: »Nein, finden wir nicht, wir finden das wissenschaftlich sehr interessant.« Darauf folgten keine weiteren Kommentare. Ich vermute jedoch, dass einige der Beamten insgeheim dachten: »Wissenschaftler sind halt kauzig, auch wenn sie wie nette Mädchen aussehen.«
Das mag sogar stimmen. Es gilt sicher nicht für alle Wissenschaftler, aber für viele, die dauerhaft im forensischen Bereich arbeiten. Irgendwann wurde mir klar: Die Fähigkeit, zum Beispiel solche Videos derart unbeteiligt zu betrachten, hat wie alle Eigenschaften Vor- und Nachteile. Einerseits kommt man vielen Menschen »komisch« vor und eckt häufiger, wenn auch ungewollt, mit anderen an. Andererseits kann man diese Fähigkeit – wie ich und viele andere Menschen in ähnlichen Berufen – nutzen und sich darüber freuen, dass man damit etwas Sinnvolles erreicht.
Eines meiner Lieblingszitate, die diese Haltung widerspiegeln, stammt aus der BBC-Fernsehserie »Sherlock«. Sherlock Holmes sagt in einem Leichenschauhaus zu seinem Bruder Mycroft, während sie aus der Ferne eine trauernde Familie beobachten: »Sieh sie dir nur an. Es geht ihnen allen so unglaublich nahe. Fragst du dich je, ob irgendwas mit uns nicht stimmt?« Darauf antwortet Mycroft Holmes: »Alles Leben endet. Alle Herzen werden gebrochen. Mitgefühl bringt keinen Vorteil, Sherlock.«
Es ist nicht so, als hätte ich kein Mitgefühl. Aber wenn ich mit einem Straftäter arbeite, dann sehe ich den Menschen vermutlich ähnlich, wie ein KFZ-Gutachter einen Unfallwagen betrachten würde: Er fragt sich, ob an dem Wagen bestimmte Teile kaputt sind, ob er dadurch nicht so funktionierte, wie er sollte, und schließlich den Unfall verursachte. Der Sachverständige wird seinen Job nicht allzu lange machen können, wenn er sich bei jedem Unfallwagen fragt, wer jetzt an der Tragödie schuld und wie groß das durch den Unfall verursachte Leid ist.
Der Unterschied zwischen der Arbeit des KFZ-Sachverständigen und meiner liegt nur darin, dass es bei Straftaten im Gegensatz zu Autounfällen stets um die Frage von Schuld, Sühne und Gerechtigkeit
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