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Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Titel: Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lydia Benecke
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mischte der Mann, der sie missbrauchte, mit sexuellen Handlungen verschiedenster Art. Er filmte und fotografierte die Brüder auch bei sexuellen Handlungen mit anderen Jungs. Viele Jahre später, während seiner eigenen Verhandlung, sagte er mit voller Überzeugung aus, dass »aus den Jungs nichts geworden wäre«, wenn er sich nicht um sie gekümmert hätte.
    Dieser Täter verstand bis zuletzt nicht, was seine Taten besonders grauenvoll macht: Er vermischte über Jahre scheinbar liebevolle, fürsorgliche und hilfreiche Handlungen, die den Kindern tatsächlich in ihrer Entwicklung hätten helfen können, mit der zerstörerischen »Gegenleistung«, sexuelle Handlungen mit ihm und anderen durchzuführen. Das hatte für die Jungen, die bei ihm aufwuchsen, verheerende Folgen:
    Der ältere der beiden (also der, dem ich im Gefängnis begegnete) entwickelte selbst eine homosexuelle Kernpädophilie. Das bedeutet, dass er für den Rest seines Lebens als einziges wirklich interessantes sexuelles und beziehungsmäßiges Gegenüber Jungen vor Beginn ihrer Pubertät empfinden wird. Diese Neigung und die Handlungen, die er schon als junger Erwachsener an minderjährigen Jungen beging, waren ein Spiegelbild dessen, was sein Missbrauchstäter mit ihm selbst getan hatte. Ein solcher Zusammenhang kommt gar nicht selten vor. Einige Menschen, die als Kinder Missbrauchsopfer wurden, werden als Erwachsene selbst zu Tätern. Warum dies so ist, ist noch nicht abschließend geklärt.
    Der junge Mann, der mir als Opfer und Täter zugleich gegenüberstand, erzeugte in mir etwas, das ich in diesem Job sonst nur sehr selten empfinde: ein auf mich selbst abfärbendes Gefühl. Mir wurde klar, dass nur einige Zufälle in unseren teils so ähnlichen Lebensgeschichten dafür sorgten, dass er schließlich als Täter im Gefängnis landete, ich dagegen als angehende Psychologin, die mit solchen Tätern arbeiten wollte.
    Man hätte nur zwei Merkmale in unseren Lebensgeschichten austauschen müssen, und wir hätten bei unserer Begegnung auf der jeweils anderen Seite gestanden: Wäre ich in seinem Ghetto aufgewachsen und er in meinem. Und zweitens: Wäre ich auch ein Junge gewesen und nicht ein Mädchen. Dann hätte ich als Kind dem Mann, der ihn missbrauchte, zum Opfer fallen können, während er vielleicht in meinem Ghetto niemals missbraucht worden wäre. Vielleicht hätte ich dann auch eine Kernpädophilie entwickelt, er dagegen eine »normale« Sexualität. Vielleicht hätte ich dann die Taten begangen, für die er nun im Gefängnis saß. Vielleicht hätte er es genauso wie ich geschafft, das Abitur zu machen und zu studieren. Dann hätte er dort gesessen, als Praktikant kurz vor Abschluss seines Psychologiestudiums. Und ich wäre vielleicht der noch sehr kindlich aussehende junge Mann gewesen, das Opfer, das zum Täter wurde.
    Nur zwei Dinge, und alles wäre vielleicht ganz anders gekommen. Man spricht hier vom »Butterfly Effect«. Im ersten Moment war dies ein sehr verstörender Gedanke für mich, verbunden mit einem sehr beunruhigenden Gefühl. Es war allerdings auch eine sehr fruchtbare Erfahrung.
    Nach meinem Praktikum durfte ich weiter in der Gruppe für Missbrauchstäter mitarbeiten. Das tue ich bis heute. So sah ich, wie sich dieser junge Mann in den wöchentlichen Gruppentherapiesitzungen über mehrere Jahre veränderte. Er machte eine persönliche Entwicklung, die mich sehr beeindruckte. Anfänglich war er noch der Täter, der völlig durch seinen Ziehvater gesteuert wurde und jedes Unrecht der Parallelwelt der Pädophilen leugnete. Doch mit der Zeit wurde er zu dem Menschen, der er viel früher hätte werden können.
    Nur seine pädophile sexuelle Neigung verschwand nicht. Leider gibt es bis heute keine angemessene Behandlung, mit der man eine einmal fest ausgeprägte sexuelle Neigung ernsthaft verändern kann. Doch er arbeitete alles auf, was ihm passiert war und was er selbst anderen angetan hatte. Er entwickelte Gefühle für das Grauen, dem er zum Opfer gefallen war und das er irgendwann konsequent zu leugnen gelernt hatte. Ebenso lernte er wahrzunehmen, welches Leid er seinen Opfern zugefügt hatte, er lernte sich schuldig zu fühlen. Er würde für immer damit leben müssen, sagte er, dass er bei seinen eigenen Opfern unter Umständen schwerwiegende psychische Probleme ausgelöst hatte. Vielleicht würden sie ähnliche Probleme entwickeln wie er und sein jüngerer Bruder.
    Der Bruder wurde immerhin nicht pädophil. Er ist ein

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