Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
einzelnen Menschen liegt. Was muss passieren, damit auch psychisch unauffällige Menschen sich zu Tötungen, Folterungen und Vergewaltigungen hinreißen lassen? Der Psychologe Philip Zimbardo forscht bis heute an dieser Frage. Er führte 1971 das »Stanford-Prison-Experiment« durch, bei dem er psychisch unauffällige Studenten innerhalb von wenigen Tagen dazu brachte, sich zunehmend unmenschlich zu verhalten. Die freiwilligen Teilnehmer wurden nach Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt, »Gefangene« und »Wärter«. Der Versuch wurde im Keller der Stanford University durchgeführt, wo ein Gefängnistrakt nachgebaut worden war. Die Gruppe der Wärter trug Uniformen und verspiegelte Sonnenbrillen. Die Gruppe der Gefangenen trug Gefängniskleidung; sie wurden nicht mit Namen, sondern mit Nummern angesprochen.
Während die Gefangenen sich von Anfang an nicht in ihre Rolle fügen wollten und die Wärter zunächst nicht ernst nahmen, versuchten die Wärter, die Kontrolle über ihre Gefangenen zu halten. Dabei setzten sie zunehmend drastische Mittel ein. Das eigentlich auf zwei Wochen angesetzte Experiment wurde schließlich schon nach sechs Tagen abgebrochen.
Dies war nur eines von vielen psychologischen Experimenten, die zeigen, dass fast jeder Mensch unter bestimmten Bedingungen grausam werden kann. Eine Tatsache, die den meisten Menschen nicht klar ist. Das zu wissen, lässt die Grenzlinie zwischen »gut« und »böse« stark verschwimmen: Jeder Mensch ist zu fast jeder grausamen Handlung in der Lage, wenn man ihn in eine entsprechende Situation bringt.
Wenn ich Vorträge über Kriminalfälle halte, versuche ich den »True Crime«-Fans manchmal zu vermitteln, dass Kriminalfälle in Wirklichkeit keine seichte Fernsehunterhaltung sind. Ich stelle dann den Fall von John List vor, einem Mann, der eines Tages seine Frau, seine drei Kinder und seine Mutter tötete. Niemand hatte diesem Mann eine solche Tat zugetraut, er galt als Spießer, war religiös und aktiv in seiner Kirchengemeinde. Dieser Fall ist einer von jenen, in denen im Nachhinein alle, die die Familie kannten, sagten: »Das hätten wir ihm niemals zugetraut, er war doch so ein netter und gesetzestreuer Mensch.«
Psychologisch gesehen war John List tatsächlich kein voll ausgeprägter Psychopath. Doch er hatte einige Eigenschaften, die typisch für Psychopathen sind. Er hatte deutlich schwächer ausgeprägte Gefühle als »normale« Menschen, und er wollte um keinen Preis als Versager dastehen, denn gesellschaftliches Ansehen war eines der Hauptziele in seinem Leben. Lieber tötete er seine Familie, als einzugestehen, dass er beruflich und finanziell völlig versagt und jahrelang über seine Verhältnisse gelebt hatte. Wenn ich diesen Fall bei Vorträgen präsentiere, versuche ich den Zuschauern zwei Dinge zu vermitteln:
Erstens kann der unauffälligste, netteste Nachbar irgendwann zu einem Täter werden, ohne dass sein Umfeld dies jemals für möglich gehalten hätte.
Zweitens ist die Arbeit mit solchen echten Fällen keineswegs unterhaltsam, wie ein Krimi im Abendprogramm. Was den Opfern passiert, ist sinnlos und ungerecht und kein Fernsehvergnügen.
Zuhörern, die es möchten, gebe ich schließlich die Möglichkeit, sich ein Schwarz-Weiß-Foto der beiden erschossenen Söhne von John List anzuschauen. Ich erkläre vorher, dass es mir gerade nicht darum geht, die Sensationslust der Zuhörer zu befriedigen. Stattdessen sehen sie die Nahaufnahme zweier toter Kinder, denen der Vater in den Kopf geschossen hat. Dieses Bild löst bei den meisten »normal« empfindenden Menschen sofort Gefühle wie Trauer und Erschütterung aus.
Diese alles andere als unterhaltsame Sicht auf echte Kriminalfälle ist das »täglich Brot« von Menschen, die im forensischen Bereich arbeiten. Bilder in Fallakten sehen nicht aus wie in Serien wie »CSI«. Wie es ein Bestatter aus New York, der Leichen zur Beerdigung wieder herrichtet, in dem Dokumentarfilm »Rest in Peace« ausdrückte: »Der Tod ist grausam und der Tod ist hässlich.«
Eine der ersten Lektionen während meines Praktikums im Gefängnis war: Besonders wenn man Fallakten mit entsprechend drastischen Bildern sieht, muss man sich ehrlich fragen, was man fühlt. Mein Glück war, dass ich wenig fühlte. Wenn man als forensischer Therapeut oder Gutachter den Tätern begegnet, nachdem man die Tatortbilder gesehen und die Akte gelesen hat, muss man ihnen trotzdem sachlich und sogar menschlich gegenüberstehen
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