Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
heterosexueller junger Mann, der gleichaltrige Frauen als sexuelle und partnerschaftliche Gegenüber sucht. Doch er entwickelte schwere Depressionen, derentwegen er lange in Behandlung war, ohne dass sie je völlig verschwanden. Ich kann aus jahrelanger Arbeit und persönlicher Bekanntschaft und Freundschaft mit vielen ehemaligen Missbrauchsopfern sagen: Es gibt kein Opfer, das nicht deutliche Spuren an seiner Seele zurückbehält. Die Wunschvorstellung der Täter, dass sie keinen Schaden an den Kindern anrichten würden, ist eine schreckliche Selbsttäuschung. Nicht jedes Opfer entwickelt die gleichen Probleme. Es ist von Fall zu Fall unterschiedlich, welche Folgen der Missbrauch hat und wie schwer sie sich auf das Leben der Opfer auswirken. Doch ohne deutliche dauerhafte Schäden an seiner Psyche und seiner Persönlichkeit bleibt kein Opfer zurück.
Diese Lektion lernte auch der junge Mann, den ich bis zu seiner Entlassung aus dem Gefängnis einige Jahre später Woche für Woche erlebte. Er verstand, dass sowohl er wie auch sein Bruder für den Rest ihres Lebens psychische Probleme haben werden, als direkte Folge des jahrelangen Missbrauchs. Er lernte, dass er schwere Schuld auf sich geladen und andere auf dieselbe Art verletzt hatte, auf die er verletzt worden war. Besonders hart war es für ihn, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass er den Schaden, den er bei seinen Opfern angerichtet hat, niemals rückgängig oder wiedergutmachen kann. Er saß seine Strafe ab und arbeitete die Jahre, in denen ich ihn sah, hart und mit voller Überzeugung an sich. Dabei lernte er Strategien, die ihn davor bewahren werden, jemals wieder zum Täter zu werden. Er ist einer von jenen, bei denen ich fest daran glaube, dass er nicht mehr rückfällig werden wird.
Immer wenn ich einem Täter gegenübersitze, denke ich, egal was er getan hat, an den »Butterfly Effect«. Ich versuche etwas über sein Leben zu erfahren; zu verstehen, was mit ihm passiert ist, warum er so geworden ist. Wenn er sich unkooperativ verhält, wenn seine Tat besonders gravierend war und er sich noch sehr uneinsichtig zeigt, dann stelle ich mir das Kind vor, das er früher war. Das Kind, das in einer Lebensumgebung aufwuchs, die seine jetzige Persönlichkeit geformt hat. Ich frage mich, was dieses Kind damals vermisst hat, womit es nicht klarkam, was es Unangenehmes erlebt hat.
Oft hatten Täter als Kinder kein Selbstwertgefühl. Sie fühlten sich – und wurden auch tatsächlich – von ihrer Familie oder ihrem sozialen Umfeld abgelehnt. Viele von ihnen hatten Eltern, die ihre Gefühle und Bedürfnisse ignorierten. Daher begannen sie zu glauben, dass sie als Menschen, so wie sie sind, nicht in Ordnung sind. Daraus erwuchs wiederum der Glaube, sie könnten von anderen nur durch Härte oder Manipulation das bekommen, was sie sich wünschen. Wenn ich mit einem Täter arbeite, sehe ich diese Ursprünge seiner Persönlichkeit. Ich denke an das Kind, das er mal war. Dann ist es leicht, freundlich mit ihm zu reden und ihm zu zeigen, dass man ihn nicht für ein Monster hält. Ich versuche zu vermitteln, dass ich ihm als einem Menschen gegenübersitze, mit dem ich arbeiten möchte, damit er sich für sich selbst und für andere positiv verändern kann.
Ich versuche dabei stets, eine innere Haltung einzunehmen, die eines meiner Lieblingszitate gut zusammenfasst. Es stammt aus dem Roman »Wer die Nachtigall stört« von Harper Lee:
»Du wirst einen Menschen nie wirklich verstehen, bis du die Dinge aus seinem Blickwinkel betrachtest. Bis du in seine Haut schlüpfst und darin umherläufst.«
Die Wirklichkeit ist keine Krimiserie
Viele Menschen, die »True Crime«-Bücher und -Serien interessant finden, sagen, dass sie von Verbrechen fasziniert sind. Das gilt auch für Besucher meiner Kurse für Kriminalpsychologie oder der Vorträge, die ich mit Mark Benecke gehalten habe. Doch was fasziniert sie genau? Viele sagen, sie seien »fasziniert vom Bösen«. Oft mögen sie Krimiserien wie »CSI« und sagen, sie hätten gerne einen Beruf, der mit der Aufklärung von Verbrechen zu tun hat.
Es scheint, als würden sie an die »Guten« und die »Bösen« in der Welt glauben, daran, dass man Gerechtigkeit herstellen und die »Bösen« aus dem Verkehr ziehen kann. Das ist aus meiner Sicht der falsche Ansatz. Da ich Menschen nicht in »gut« und »böse« einteile, finde ich die Frage viel faszinierender, wie nah die Grenze zwischen »guten« und »bösen« Handlungen in jedem
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