Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
mehr zum festen Bestandteil der Persönlichkeit. Deshalb erinnert sich der »Nähe-Allergiker« manchmal gar nicht mehr bewusst daran, woher seine Probleme in festen Partnerschaften eigentlich kommen. Der US-amerikanische Psychologe und Experte für Paartherapien, Dr. Stan Tatkin, beschrieb diese »Allergie« in einem Interview für den Sender »Shrink Rap Radio« (was auf deutsch »Seelenklempner Rap Radio« bedeutet) so:
»Es ist nicht ungewöhnlich für solche Menschen fremdzugehen, wenn sie erst verheiratet sind oder auch schon vorher. Ein wichtiger Grund dafür ist nicht, dass sie ihren Seitensprung bevorzugen, sondern dass sie Abstand zu ihrem eigentlichen Partner aufbauen müssen. Es geht also nicht hauptsächlich darum, dass andere Sexpartner eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie haben. Das Hauptproblem ist, dass sie eine tiefe Abneigung – und manchmal auch Angst – fühlen, wenn sie anfangen, zu sehr an ihrem eigentlichen Partner zu hängen.«
Eine Gefühlsnotbremsung mit schweren Folgen
Christian erzählte mir in früheren Gesprächen, dass er grundsätzlich deutlich weniger fühlt als andere Menschen. Ich frage ihn, wann er das gemerkt hat. Er überlegt kurz, bevor er sagt: »Da könnte ich keinen Zeitpunkt für nennen.« Ich bitte ihn zu beschreiben, woran er merkt, dass er anders fühlt als die meisten Menschen. Er erzählt: »Ich denke, ganz viele Dinge versuche ich mir einfach sachlich zu erklären. Warum etwas passiert oder etwas ist, wie es ist. Ich beurteile Dinge nicht gefühlsmäßig, sondern sachlich.« Damit beschreibt er – wie auch meine anderen psychopathischen Interviewpartner – sehr treffend, was viele wissenschaftliche Forschungsergebnisse zeigen:
Psychopathische Menschen ersten Ranges – also mit stark verminderten Gefühlen – nutzen in den meisten Situationen hauptsächlich Hirnbereiche, die für sachliches, vernünftiges Verstehen zuständig sind. Sie können durch logisches Denken ein wenig kompensieren, dass sie auf viele Dinge nicht intuitiv mit Gefühlen reagieren. So kann ein psychopathischer Mensch, selbst wenn er Zeuge eines Autounfalls mit Schwerverletzten wird, immer noch völlig ruhig und sachlich erklären, warum alle Menschen um ihn herum entsetzt sind.
Ich frage Christian, in welchen Lebensbereichen er diesen Unterschied zu anderen Menschen besonders stark bemerkt. Wieder überlegt er kurz, bevor er antwortet: »Es kristallisiert sich raus, wenn ich mich mit anderen vergleiche. Ich weiß beispielsweise nicht, wie man mit Beziehungen umgeht. Wie nah man Menschen an sich heranlässt. Außerdem unterscheide ich mich von den meisten darin, wie sehr ich meine Gefühle für andere Menschen unter Kontrolle habe. Ich komme beispielsweise sehr gut damit klar, wenn eine Beziehung zu Ende ist. Da bin ich anders als neunzig Prozent der anderen Menschen.«
Mich interessiert, wie er selbst sein Gefühlsleben wahrnimmt. Deshalb frage ich ihn, ob er den Eindruck hat, dass seine Gefühle grundsätzlich schwächer als bei anderen Menschen sind oder ob er glaubt, dass er sie eher schnell »herunterfährt«. Darauf antwortet er: »Das ist schwer zu beurteilen, denn das Ergebnis ist bei beiden Möglichkeiten dasselbe. Ich erinnere mich, dass meine Gefühle auf jeden Fall mal normal ausgeprägt gewesen sein müssen. Als Kind hatte ich oft starke Gefühle. Beispielsweise habe ich sehr heftig reagiert, wenn es um meine Kuscheltiere ging. Das würde ich heute natürlich nicht mehr in diesem Maße tun.« Lachend fügt er hinzu: »Also zumindest bei Kuscheltieren nicht.« Dann erklärt er weiter: »Inzwischen habe ich fast nie deutliche Gefühle. Ich weiß aber nicht, ob sie abgeflacht sind oder ob ich sie einfach so gut unter Kontrolle bekommen habe. Dafür gibt es keine Messlatte.«
Christian erzählt auf meine Frage hin, in welchen Situationen er als Kind starke Gefühle wegen seiner Kuscheltiere hatte: »Na ja, wenn man beispielsweise ein kleines Kind ist und der große Bruder einem sein Kuscheltier wegnimmt. Klar, dass einen das traurig macht, dass man weint, herumschreit und ihn am liebsten umbringen würde. Da reagiert man halt gefühlsmäßig wegen einem Kuscheltier, wo man als sachlich denkender Mensch sagen könnte: ›Der spielt damit zehn Minuten, dann hat er keinen Bock mehr, wenn es mich nicht ärgert. Einfach die Fresse halten, dann kommt das Kuscheltier von alleine wieder.‹ Aber wenn man auf so Dinge anspringt, dann ist das natürlich eine gefühlsmäßige
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