Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
gefühlsverminderten Psychopathen Wut ist. Dass dieses Gefühl »übrig bleibt«, macht Sinn, denn es ist das einzige, das Psychopathen als »Notfallreaktion« ihres Gehirns nützlich ist, um sich gegen andere Menschen zu wehren.
Vielleicht fragen Sie sich, wie es sein kann, dass Gefühle in einem Menschen erstarren. Darüber weiß die Wissenschaft bisher noch nicht sehr viel. In Untersuchungen von Psychopathen konnte zwar gezeigt werden, dass ihre »Gefühls-Gehirnbereiche«, wenn sie erwachsen sind, nicht mehr »anspringen«, so wie sie es bei normalen Menschen tun. Es ist aber bis heute unbekannt, warum dies nicht passiert. Einen Hinweis darauf fand Robert Hare – Erfinder der »Psychopathie-Checkliste« – allerdings schon 1978 durch eine Untersuchung, die belegte, dass Psychopathen anscheinend gar nicht so kaltblütig sind, wie es auf den ersten Blick aussieht.
Bei dieser Untersuchung wurde psychopathischen und nicht-psychopathischen Straftätern angekündigt, sie würden ungefährliche, aber schmerzhafte Stromschläge erhalten. Die Sekunden bis zum Stromschlag wurden jeweils laut heruntergezählt. Es ging in dem Versuch nicht wirklich darum, wie jemand auf einen Stromschlag reagiert, sondern was in seinem Körper vorgeht, wenn er vor dem Schlag Angst bekommt. Hare fand heraus, dass »normale« Straftäter typische körperliche Angstreaktionen zeigen: Ihr Herzschlag ging beim Countdown hoch, sie begannen stark zu schwitzen, und ihr Körper zeigte diese Reaktion auch noch eine Weile, nachdem sie den Stromschlag erhalten hatten.
Psychopathische Straftäter reagierten anders: Sie schwitzten kaum. Daraus hätte man also schließen können, dass sich bei ihnen einfach keine Angst einstellt. Doch das stimmt nicht ganz. Ihr Herzschlag ging beim Herunterzählen der Sekunden erst deutlich hoch, sogar höher als bei den nicht-psychopathischen Straftätern. Nach dem Stromschlag war er aber deutlich niedriger. Hare deutet dieses Ergebnis so, dass psychopathische Gehirne eine Strategie entwickeln, unangenehme Gefühle wie Angst schnell und unwillkürlich »herunterzuregeln«. Das tun sie, noch bevor es dem betroffenen Menschen bewusst wird.
Hares Meinung nach weist der extrem hohe Herzschlag in Erwartung eines Stromschlags darauf hin, dass im psychopathischen Gehirn und somit auch Körper etwas passiert, das sehr schnell das aufkommende Gefühl unterdrückt. Dass dieser Vorgang erfolgreich ist, sieht man Hare zufolge daran, dass die typische Angstreaktion der Haut – starkes Schwitzen – ausbleibt und dass nach dem angsteinflößenden Ereignis der psychopathische Körper wieder funktioniert, als sei nichts gewesen.
Psychopathische Gehirne scheinen demnach unwillkommene Gefühle schnell herunterregeln zu können, was aber zumindest mit energieraubenden Körperreaktionen verbunden ist. Dies passt zu einer Beobachtung, die mich bei Interviews mit Christian zunächst erstaunte: Wenn wir auf Themen kamen, die ihm wirklich unangenehm sind, wurde er regelmäßig müde. Meist gähnte er sogar – was er sonst nur selten tut –, kurz bevor ihm selbst auffiel, dass er müde war. Zunächst dachte ich, dies könnte vorgetäuscht sein, um dem Thema aus dem Weg zu gehen.
Doch er sagte mir, ihm sei dies irgendwann bei sich aufgefallen, und er fände es selbst merkwürdig: Wenn unangenehme Situationen und Gefühle auf ihn zukommen, wird er immer wieder schlagartig müde. Dies nerve ihn selbst manchmal, weil er dies beispielsweise in den seltenen heftigen Streitsituationen mit Menschen, die ihm nahestehen, erlebt. Dadurch kann er sich auch schlechter als sonst konzentrieren. Dass dies keine Ausrede war, merkte ich während unserer Interviews häufiger. Wenn wir an heikle Punkte kamen, sprach er meist noch eine Weile weiter über das gerade unangenehme Thema, obwohl er sichtlich müde wurde und sich schlecht konzentrieren konnte. Danach war er manchmal erschöpft wie nach einem sehr harten Arbeitstag.
Alexander – der noch weniger Gefühle zeigt als Christian – weist eine andere Besonderheit auf: Er braucht eine feste Anzahl Stunden Schlaf zu festgelegten Zeiten. Schläft er deutlich weniger, zeigt auch er Gefühle – er wird gereizt, sogar aggressiv und wütend.
Mit Schuldgefühlen »gut umgehen«
Kriminelle Psychopathen empfinden keine oder nur sehr schwache Schuldgefühle. Deshalb können sie so leicht Menschen ausrauben, verletzen oder töten. Christian hat noch nie eine Straftat begangen, obwohl er mittelmäßig
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