Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
Reaktion.«
Mir fällt auf, dass Christian hier nicht mehr »ich« sagt, sondern »man«. Wenn Menschen plötzlich anfangen, von sich als »man« zu sprechen, dann bedeutet das oft, dass sie zu dem, was sie sagen, einen gewissen Abstand halten. Christian erinnert sich zwar daran, wann er als Kind starke Gefühle empfunden hat. Doch weil er schon sehr lange nur noch selten und schwach fühlt, ist diese Erinnerung für ihn weit weg. Er kann sich zwar »sachlich« daran erinnern, aber nicht mehr nachfühlen, wie es ihm damals ging. Deswegen erzählt er von seinen Gefühlen als Kind – unbewusst – in der »Man-Form«. Dadurch drückt er unwillkürlich aus, wie groß der Abstand zwischen seinen Gefühlen als Kind und seinen Gefühlen jetzt ist. Psychologisch gesehen ist es nützlich, genau darauf zu achten, mit welchen Worten Menschen etwas sagen. Dieses Beispiel zeigt, dass Menschen nicht nur durch das Was, sondern auch durch das Wie einiges über sich verraten.
Ich frage Christian, ob er sich daran erinnert, wann seine Gefühle, die in der Kindheit noch so stark waren, abflachten. Er antwortet: »Es hängt wahrscheinlich mit meiner Legasthenie zusammen. Wenn man in der Klasse den offensichtlichsten wunden Punkt hat und alle da lustig den Finger reinlegen, dann schließt man entweder seine Gefühle einfach weg oder lernt sie wesentlich besser zu beherrschen. Man merkt: Wenn ich darauf anspringe, was sie sagen, sorgt das höchstens dafür, dass noch mehr kommt. Dann ignoriere ich es halt, und es berührt mich irgendwann nicht mehr. Fertig. Ich denke, es war ein Lernprozess. Nur weiß ich nicht, ob ich gelernt habe, Gefühle schnell runterzufahren, wenn sie aufkommen, oder sie einfach ganz auszuschalten, sodass sie gar nicht mehr aufkommen.«
Christian empfindet seit über zwanzig Jahren keine deutlichen Gefühle mehr. So zu sein ist vollkommen selbstverständlich für ihn. Deshalb wundert mich nicht, dass er nicht weiß, was in ihm genau seine Gefühle dauerhaft so »stumpf« macht. Trotzdem möchte ich ihn dazu bringen, sich mit seinem Zustand etwas genauer auseinanderzusetzen. Deshalb frage ich ihn, ob er es für möglich hält, dass er seine Gefühle aus eigenem Antrieb »herunterregelt«. Darüber denkt er länger nach, bevor er sagt: »Wenn, dann wäre es absolut unbewusst. Mir ist noch nie aufgefallen, dass ich mir jemals so was denken würde wie: Oh, da kommt ein Gefühl, das muss ich runterregeln. Bei mir ist das mehr so ein … hm«, wobei er mit gleichgültigem Gesichtsausdruck die Schultern zuckt.
Das Schulterzucken drückt etwas aus, was in einigen unserer Gespräche immer wieder ein Thema war: Wenn Christian überhaupt mal etwas fühlt, dann immer so schwach, dass es ihn nie wirklich belasten oder sogar bedrohen könnte. Dadurch verhindert er, jemals wieder so stark zu leiden wie in seiner Kindheit. Hier hat er etwas mit kriminellen Psychopathen gemeinsam: Auch diese sind durch emotionale Verletzungen in der Kindheit »gefühlstaub« geworden.
Alle ungewöhnlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen von kriminellen und nicht-kriminellen psychopathischen Menschen hängen mit zwei Dingen zusammen: Erstens litten sie als Kinder unter anderen Menschen, was sie vollkommen überforderte. Zweitens zog bei ihnen allen das Gehirn irgendwann die »Notbremse« und schaltete ihre Gefühle ganz oder zum größten Teil ab. Wenn man psychopathische Menschen verstehen will, muss man dies bei allem, was sie sagen und tun, im Auge behalten.
Wie können Gefühle einfach verschwinden?
Bis vor kurzem wussten Wissenschaftler nur wenig darüber, wie sich das Gefühlsleben von Psychopathen zwischen ihrer Kindheit und ihrem Erwachsenenalter genau verändert. Aber just in diesem Jahr – 2013 – stellte der Psychologieprofessor Dr. David Kosson von der »Rosalind Franklin University« in Chicago zu diesem Thema seine aktuellen Forschungsergebnisse vor. Er fand heraus, dass Psychopathen bis zum Alter von ungefähr fünfzehn Jahren deutlich stärkere unangenehme Gefühle empfinden als andere Kinder und Jugendliche. Sie sind nicht nur häufiger wütend, sondern auch häufiger depressiv und sogar ängstlich. Spätestens ab ihrem fünfzehnten Lebensjahr scheint der »innere Gefühlsschalter« jedoch umgelegt zu werden, und ihre Gefühle »erstarren«.
Auf ein Gefühl trifft das allerdings nicht oder nur zum Teil zu: Wut. Dies entspricht der Beobachtung, dass die einzige nicht gespielte starke Gefühlsreaktion von sonst
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