Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt
das Bewusstsein, meiner Verantwortung gerecht geworden zu sein und meine Pflichten einigermaßen anständig erfüllt zu haben.
Welche waren das?
Ganz allgemein die Pflicht, der salus publica, dem öffentlichen Wohl zu dienen. Das Problem ist weniger, abstrakt seine Pflicht zu erfüllen. Viel schwieriger ist es, in einer konkreten Situation, unter bestimmtenUmständen zu erkennen: Was ist hier und heute meine Pflicht?
Vielleicht würde Sie das Enkelkind dann fragen: Aber ist es nicht viel wichtiger, dass ich glücklich bin, dass ich liebe und geliebt werde, als meine Pflicht zu erfüllen?
Die Pflichterfüllung schließt die Mitmenschlichkeit ein. Sich anderen Menschen gegenüber menschlich zu verhalten, ist eine Pflicht. Mitmenschlichkeit, humanitas, ist eine der grundlegenden Verantwortlichkeiten jedes einzelnen Menschen.
Ist ein Leben erfüllt ohne die Erfahrung von Liebe?
Wenn jemand nie in seinem Leben Liebe erlebt hat, nie geliebt worden ist und nie selber geliebt hat, dann fehlt ihm ein Element, das für die allermeisten Menschen eine ganz große Bedeutung hat. Das heißt aber noch nicht, dass der, dem dieses Element fehlt, ein armer Wicht ist.
Haben Sie genug Liebe erfahren in Ihrem Leben?
Ich beklage mich nicht.
Hätten Sie mehr lieben können?
Das ist mir tatsächlich zu persönlich. (Lacht leise)
Sie haben aber sicher das ganz große Glück erfahren, ein erfülltes Leben gelebt zu haben.
Mag so sein.
Sind Sie dafür dankbar?
Dankbar bin ich insbesondere vielen Menschen für ihre Freundschaft, ihre Zuverlässigkeit. Aber Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal oder Gott, das ist eine andere Kategorie, die mir relativ fern ist.
Ich habe in Ihrem Buch »Außer Dienst« gelesen, dass ein Pastor Ihnen im Krieg einen Zugang zum Christentum eröffnet hat. Sie saßen damals in Russland fest, weil die Fahrzeuge im Schlamm stecken geblieben waren, und er sagte zu Ihnen: »Vergessen Sie nicht, es geschieht nichts ohne Gottes Willen.« Das haben Sie als Trost empfunden.
Der damalige Trost hat nicht sehr lange vorgehalten.
Da kam also dann schnell der Agnostiker Helmut Schmidt wieder zum Vorschein?
Nicht der Agnostiker. Wenn man den Satz »Es geschieht nichts, was Gott nicht will« ernst nimmt, dann muss man Gott Auschwitz zurechnen, dann muss man ihm alle Kriege der Welt zurechnen und jeden Tyrannen als Ausdruck göttlichen Willens begreifen. Deswegen halte ich diesen Satz für höchst fragwürdig.
Achten Sie darauf, wie Ihr Bild später in der Geschichte sein wird?
Nein, dergleichen muss man der Nachwelt überlassen. Deshalb habe ich auch keine Autobiografie geschrieben.
Aber Sie haben doch gewisse Vorkehrungen getroffen: Sie haben ein Helmut-Schmidt-Archivgegründet, Sie haben feste Vorstellungen, was aus Ihrem Haus werden soll. Hat das nichts mit dem Wunsch zu tun, das Bild zu prägen, das von Ihnen bleiben soll?
Nein, es hat mit einer amerikanischen Erfahrung zu tun. Ich habe in Amerika erlebt, wie dortige Präsidenten ihre schriftliche Hinterlassenschaft geordnet der Nachwelt übergeben haben – allerdings nicht so sehr, weil sie auf diese Weise ihr Bild und ihre Rolle in der Geschichte beeinflussen wollten. Sie gingen vielmehr zu Recht davon aus, dass das, was sich da angesammelt hatte, für spätere Historiker oder Literaten interessant sein könnte.
Fast jeder Mensch, der im Leben auf seinem Gebiet etwas Außergewöhnliches leistet, tut das auch aus einer Erfahrung von Ohnmacht oder Demütigung heraus oder aus der Erfahrung von zu wenig Anerkennung.
Das glaube ich nicht. Nehmen Sie Männer wie Mozart, Schiller oder Luther, wie El Greco oder Michelangelo. Die waren ganz ohne solche Erfahrungen groß.
Sie haben selbst einmal über sich gesagt, dass Anerkennung Ihnen immer viel wichtiger gewesen sei als alles andere.
Das habe ich wohl gesagt, als mich jemand zu meinem Ehrgeiz befragen wollte. Da habe ich wahrscheinlich geantwortet, dass mich nicht der Ehrgeiz nach Ämtern, sondern das Streben nach Anerkennung angetrieben hat. Ich würde das für eine allgemeinmenschliche Eigenschaft halten. Ohne Anerkennung durch seine Zeitgenossen geht auch ein Schriftsteller oder ein Maler ein. Nehmen Sie van Gogh als Beispiel. Auch ein Mann wie mein Großvater mütterlicherseits, der Schriftsetzer und Drucker war, brauchte die Anerkennung durch seine berufliche Umwelt und durch die Menschen, die neben ihm in Hamburg wohnten und lebten. Und er brauchte die Anerkennung durch seine Familie.
Von Ihrem Vater
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