Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt
haben Sie einmal gesagt, dass er sich mehr um seinen beruflichen Aufstieg als um Sie und Ihren Bruder gekümmert habe. Hat er mitbekommen, was aus Ihnen geworden ist?
Relativ wenig. Er musste während der Nazizeit viele Ängste durchstehen. Als die Nazis endlich weg waren und eine katastrophale Situation zurückgelassen hatten, war seine Energie weitgehend verbraucht. Da war er noch keine 60 Jahre alt.
Hat er Ihre Kanzlerschaft noch miterlebt?
Gerade eben noch.
War er da nicht stolz auf Sie?
Das weiß ich nicht. Er war, genau wie ich, niemand, der seine Gefühle nach außen getragen hat.
Loki sagt, in Ihnen sei ganz viel Gefühl. Sie verbergen es nur verdammt gut.
Das mag so sein. Und es kann sein, dass das auch für meinen Vater gegolten hat.
Immer wieder haben Sie in den letzten Jahren gesagt, Sie hätten keine Angst.
Nee, habe ich auch nicht.
Um diese Seelenlage beneiden Sie Millionen Menschen!
Das weiß ich nicht. Je älter man wird, desto weniger Angst muss man haben, denke ich. Am meisten Angst hatte ich in der Nazizeit und im Krieg.
Hat man nicht Angst vor Siechtum, Krankheit, Tod?
Das sind sehr unerfreuliche Lebensschicksale, die Sie da nennen. Aber was ändert man, wenn man ihnen mit Angst entgegensieht? Es wird eher schlimmer.
Können Sie mit Matthias Claudius etwas anfangen?
Ja. Er war ein begnadeter Naiver, gleichzeitig ein Romantiker. Was mich während des Krieges sehr berührt hat, ist sein Quasi-Vermächtnis an seinen Sohn, besonders aber sein Abendlied. Das hat mich eigentlich das ganze Leben begleitet. Da heißt es zum Schluss: So legt Euch denn, ihr Brüder, / In Gottes Namen nieder; / Kalt ist der Abendhauch. / Verschon uns, Gott! mit Strafen, / Und lass uns ruhig schlafen! / Und unser’n kranken Nachbar auch! Sie haben mich nach der Liebe gefragt: Hier ist sie.
Erstmals in der gebundenen Originalausgabe dieses Buches veröffentlicht
[ Inhalt ]
Pflichterfüllung und innere Gelassenheit
Über Mark Aurel
Lieber Herr Schmidt, noch nie haben wir über den römischen Kaiser Mark Aurel gesprochen, obwohl er vielleicht Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte ist.
Mark Aurel begleitet mich jetzt schon seit 75 Jahren. Als ich 15 war und konfirmiert wurde, hat mir ein Onkel die »Selbstbetrachtungen« in deutscher Sprache geschenkt. Es war ein ungewöhnliches Geschenk, das mich bald fasziniert hat. In dem Büchlein habe ich im Laufe des Lebens immer und immer wieder gelesen.
Was hat Sie so fasziniert?
Die stetige Ermahnung, seine Pflicht zu erfüllen, kombiniert mit der Ermahnung zur inneren Gelassenheit. Offenbar war Mark Aurel von Natur aus nicht unbedingt ein gelassener Mensch, aber er hat sich immer wieder zur Gelassenheit ermahnt.
Es heißt, Sie hätten Ihren Mark Aurel auch im Krieg bei sich getragen.
Das ist richtig. Ich trug das Buch in einer Packtasche, in der auch ein Heft von Matthias Claudius steckte, eine Art Vermächtnis an seinen Sohn.
In Ihrem Buch »Weggefährten« schreiben Sie durchaus selbstkritisch, dass Mark Aurel Sie zwar die Tugenden der Pflichterfüllung und der inneren Gelassenheit gelehrt habe, Sie aber erst nach der Nazizeit begriffen hätten, was er Sie nicht gelehrt hatte – nämlich selbst zu erkennen, was Ihre Pflicht war.
Ja, das ist das gleiche Problem wie bei Immanuel Kant und seinem kategorischen Imperativ. Er sagt, du sollst nur nach derjenigen Maxime handeln, von der du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Wenn man aber in einer konkreten Situation eine Entscheidung treffen und rasch handeln muss, ist das eine ziemlich harte Nuss!
Was wäre denn in der Nazizeit Ihre Pflicht gewesen?
Ich habe es für meine Pflicht gehalten, durchzuhalten – und natürlich wollte ich am Leben bleiben – und gleichzeitig als Soldat das zu tun, was mir aufgetragen war. Es war eine paradoxe Situation: Nachts war man sich darüber im Klaren, dass Hitler ein Verrückter war, dass der Krieg verloren gehen und dass Deutschland sich bei Kriegsende in schrecklichen Umständen wiederfinden würde. Tagsüber hat man dann wieder Hitlers Befehle befolgt. Schizophren!
Nun war Mark Aurel selbst ein Mann voller Widersprüche: Er hat, obwohl er kein Christenhasser war, die blutige Verfolgung der Christen fortgesetzt. Und er hat seinen offensichtlich unfähigen Sohn Commodus zum Nachfolger bestimmt, der sich dann zu einer Art Idi Amin der Antike entwickelte.
Mit der Vita von Mark Aurel habe ich mich nicht beschäftigt. Die kann ich nicht
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