Auf in den Urwald (German Edition)
ständig auf dem Dach saßen und über das Oberlicht trippelten. Er hatte die Vögel gesehen, wenn er an einem Seil zum Oberlicht hochgeklettert war, um sein Gesicht an die Scheibe zu pressen und einen Blick auf die Baumwipfel zu erhaschen – sein einziger Ausblick auf die Außenwelt. Aber es war ihm leider nicht gelungen, sein Spiegelbild zu sehen.
Das knackende Geräusch eines Türschlosses ließ ihn aufhorchen. Jemand betrat das Haus. Er atmete langsamer, wie man es ihn gelehrt hatte, damit der Pulsschlag sein Hörvermögen nicht beeinträchtigte. In der Küche klapperte ein Messer, eine Schublade wurde zugeschoben und er vernahm einen tiefen Seufzer. Es war Mrs Finchley. Und sie war zweifelsohne wieder einmal traurig. Modo überlegte, was er tun könnte, um sie aufzuheitern. Einen Tanz aufführen? Oder noch ein Bild malen?
Vielleicht war ihr ja nach einem Spiel? Er könnte über die Tür klettern und sich dort oben festklammern, um sie zu überraschen. Aber beim letzten Mal hatte sie gekreischt und ihn ausgeschimpft, also verwarf er die Idee schnell wieder. Ein Teller wurde klappernd auf eine Arbeitsplatte gestellt. Sie würde ihm gleich etwas zu essen bringen. Er leckte sich die Lippen.
Dann hörte er erneut ein Schloss knacken. Die Tür zum Trainingsraum öffnete sich quietschend und wurde einen Augenblick später wieder geschlossen. Modo saß mit dem Rücken zu ihr, doch er konnte jeden Schritt hören und wusste genau, wo sie war. Als sie um die Ecke in sein Zimmer kam, fragte er: »Mrs Finchley, bringen Sie mir Brot mit Honig?«
Ihr entfuhr ein kleiner verblüffter Japser. »Du bist wirklich ein schlaues Kerlchen. Aber anscheinend nicht schlau genug, um zu wissen, dass du nicht mit der linken Hand zeichnen sollst.«
»Warum?«
»Weil die meisten Menschen Rechtshänder sind, und du willst doch nicht auffallen. Nur der Teufel schreibt mit der linken Hand.«
Modo erschauderte und nahm den Bleistift in die andere Hand. Er war mit der rechten Hand nicht weniger geschickt. Dann fuhr er fort, die Wangen seines gezeichneten Prinzen zu schattieren.
»Sehe ich so aus, Mrs Finchley?« Er bemühte sich vergeblich, seine Stimme fest klingen zu lassen.
Sie stellte einen Teller mit einer Scheibe Brot, die dick mit Butter und Honig bestrichen war, vor ihn auf den Tisch. »Mach dir keine Gedanken über dein Aussehen, Modo. Du bist ein schönes Kind auf deine ganz eigene Art.«
Er hob den Kopf und blickte in ihre grünen Augen. Mrs Finchley war hager und ihr Gesicht voller freundlicher Runzeln. Er wäre gern aufgesprungen, um sie zu umarmen, aber ihre Augen hatten sich verengt, als hätte sie etwas Verstörendes gesehen.
»Warum zucken Sie zusammen, wenn Sie mein Gesicht ansehen?«, fragte er.
»Du bist scharfsichtiger, als gut für dich ist, Modo. Du erinnerst mich an meinen Daniel, das ist alles.«
Modo wusste, dass vor vielen Jahren eine Kutsche ihren Sohn überrollt hatte, weil die Pferde durchgegangen waren. »War er auch schön?«
»Ja, sehr schön. Aber lass uns bitte nicht von ihm sprechen.«
Sie wirkte wieder traurig und Modo suchte nach einem Weg, um sie auf andere Gedanken zu bringen. »Ich bin beim Lesen eingenickt und in eine Geschichte eingetaucht.«
»Du bist wirklich ein Wunderkind, Modo. So jung, und du kannst schon lesen.«
»Ja, also, es war das Buch, das Sie mir von – von draußen mitgebracht haben, das Buch mit der kleinen Prinzessin. Wissen Sie, die, welche ihre Schwerkraft verloren hat und deshalb schwebt.«
»Ich dachte, die Geschichte könnte dir gefallen. Man kann nicht immer nur Bücher über Generäle und militärische Strategien lesen.«
»Oh ja, sie hat mir sehr gefallen. Das Kindermädchen muss die Prinzessin festhalten, damit sie nicht davongeweht wird. Und sie lacht immer nur und weint nie. In meinem Traum bin ich auch geschwebt und die Prinzessin war da. Aber ihre Tante, die Hexe, nicht. Sie kam nicht in meinem Traum vor und Sie waren das Kindermädchen.«
»Du hast eine blühende Fantasie, Modo.«
»Waren Sie irgendwann einmal ein Kindermädchen?«
Mrs Finchley schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich habe einmal eines auf der Bühne des Theatre Royal in London gespielt.«
»Wirklich? Erzählen Sie mir mehr! Bitte!«
»Das ist lange her und diese Zeiten sind vorbei. Jetzt bin ich Erzieherin.«
»Ach.« Modo kaute einen Moment lang auf seiner Unterlippe herum, dann fragte er leise: »Sind Sie meine Mutter?«
»Nein. Das habe ich dir schon so oft gesagt. Ich bin nur
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