Auf in den Urwald (German Edition)
hier, um mich um dich zu kümmern und dich zu unterrichten. Ich weiß nicht, wer deine Mutter war.«
»Ach so.« Er schwieg einen Augenblick. »Und was wollen Se denn, dass wir heute lernen, Lehrerin?«
Mrs Finchley lachte. »Das war gar nicht schlecht für einen Cockney-Akzent. Dabei hast du doch erst letzte Woche begonnen, zu lernen, wie die Leute aus der Londoner Unterschicht reden.«
»Verkleiden wir uns heute auch wieder? Ich muss eine neue Rolle ausprobieren.«
»Heute ist Sonntag. Das weißt du doch, Modo. Sonntags hast du Geschichtsunterricht. Aber iss erst, Kind.« Modo biss zweimal hastig von dem Brot ab, worauf Mrs Finchley flüsterte: »Iss wie ein Gentleman, Modo.«
Daraufhin aß er nicht weniger gierig, doch langsamer und leckte sich zum Schluss die letzten Krümel und Honigtröpfchen von seinen wulstigen Lippen. Sie wischte ihm das Gesicht mit einer Serviette ab. Modo hielt ihren Arm fest. »Sie sind immer noch traurig.« Mrs Finchley nickte und er umklammerte ihren Arm noch fester. »Ich will nicht, dass Sie so traurig sind.«
Modo blickte ihr tief in die Augen und verzog das Gesicht. Er spürte das vertraute Gefühl, wie sich seine Gesichtszüge veränderten. Soweit er sich erinnern konnte, war er schon immer dazu fähig gewesen. Er hatte einmal das Porträt ihres Sohnes gesehen, das sie in einem Medaillon um den Hals trug. Jetzt stellte er sich Daniels Gesicht vor.
Sie rang nach Luft und versuchte, ihren Arm wegzuziehen, aber Modo war stark für sein Alter. Seine Augen wurden kleiner und die Gesichtszüge verformten sich, als wären sie aus Ton. Seine Lippen wurden schmaler.
»Daniel«, wimmerte sie. »Nein! Nein!« Tränen rannen ihr über das Gesicht. Mit einem Ruck löste sie sich aus Modos Umklammerung und wandte sich ab, um sich die Augen zu trocknen. »Nein! Tu das nicht. Ich möchte das nicht.«
»Ich will doch nur, dass Sie fröhlich sind.«
»Nein. Das ist nicht recht. Tu das nicht.«
»Aber, so ...« Er stellte sich ein wenig aufrechter hin. »So bin ich nun mal. Gefällt Ihnen das nicht?«
»Bitte verwandle dich nicht für mich. Das ist nicht nötig.«
Sie schloss die Augen und ließ sich zu einigen letzten Schluchzern hinreißen, dann fasste sie sich wieder, während Modo sein Gesicht in seine normale Form zurückgleiten ließ. Er blinzelte seine eigenen Tränen weg.
»Weine nicht, Modo. Sonst bekommst du genauso rote Augen wie ich«, sagte sie. »Ich bin eine törichte, sentimentale Frau.« Sie umschloss sein Gesicht mit ihren Händen und tätschelte ihm dann die Schulter, wobei sie unabsichtlich den Buckel berührte. »Du bist ein reizender, schöner Junge.«
Bei diesen Worten errötete Modo. Natürlich hatte er sein Gesicht oft genug abgetastet, um zu wissen, dass neben seiner Nase eine große Warze aufragte und er über seinem rechten Auge eine schwammartige Beule hatte. Mrs Finchely hatte beides schonend als Schönheitsmale bezeichnet. Aber sie hatte dergleichen nie über seinen Buckel gesagt. Wenn er den Kopf zur Seite wandte, konnte er ein Stück davon erkennen.
Mrs Finchley stand auf und strich ihre Schürze glatt. »Komm jetzt. Es ist Zeit, uns mit der römischen Geschichte zu beschäftigen. Heute lesen wir etwas über Kaiser Augustus.«
»Ich liebe Sueton!«, rief Modo begeistert und folgte ihr zum Bücherregal, dem sie eine zerlesene Ausgabe von Suetons Biografiensammlung De Vita Caesarum entnahm.
Plötzlich fühlte Modo sich beobachtet und er hörte ein leises Geräusch. Er fuhr herum und zuckte zusammen, als er Tharpa, seinen Kampfausbilder, in der Türöffnung stehen sah, der ihn mit dunklen, durchdringenden Augen ansah. Tharpa trug eine burgunderrote Reisetasche. Da er nur wenig sprach, wusste Modo eigentlich nicht mehr über ihn, als dass er aus Indien kam. Wie war es ihm bloß gelungen, ohne das geringste Geräusch die Türen zu öffnen und sich über den Holzboden zu nähern? Tharpa bewegte sich wie ein Panther.
Modo zupfte Mrs Finchley am Ellbogen. Sie wandte sich um und erschrak ein wenig bei Tharpas Anblick. »Heute ist keine Übungsstunde mit Ihnen angesetzt«, erklärte sie.
Modo winkte Tharpa schüchtern zu.
Statt einer Antwort trat Tharpa zur Seite, um seinem Herrn Platz zu machen, der, in einen eleganten Anzug gekleidet, durch die Tür schritt. Seine Halsbinde passte zu seinem weißen Haar und die grünen Augen in dem kantigen, blassen Gesicht, blickten sich prüfend um.
»Mr Socrates!«, rief Mrs Finchley. »Hätte ich gewusst, dass Sie
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