Auf in den Urwald (German Edition)
kommen, hätte ich selbstverständlich Tee und Gebäck vorbereitet.«
»Das ist nicht nötig. Ich habe mich aus einer Laune heraus entschlossen, vorbeizuschauen. Wie ist es unserem Schüler ergangen?«
»Das Lernen bereitet ihm nach wie vor keinerlei Mühe.«
Mr Socrates durchschritt den Raum und blickte auf Modo herab. »Es ist eine Freude, dich wiederzusehen, Modo. Gehorchst du Mrs Finchley auch immer?«
»Ja, Mr Socrates.«
»Ich sehe, du liest Sueton. Das ist recht. Wie denkst du über Julius Cäsar?«
»Er ... er war stark.«
»Ja. Aber was war seine größte Stärke?«
Modo kratzte sich an einer Augenbraue. »Ähm ...«
»Leite deine Sätze nicht mit ›ähm‹ ein. Das wirkt ungehobelt.«
»Seine größte Stärke war, dass er ... dass er ...«
Modo suchte nach einem Wort, um Caesar zu beschreiben. Kühn? Intelligent? »Er war entschlossen.«
»Entschlossenheit bringt einen weit. Gute Antwort, Modo.« Mr Socrates ließ sich von Tharpa die Reisetasche geben, langte hinein und gab Modo ein Buch. »Ich denke, du bist so weit, um das zu lesen. Es ist Colonel Grahams Übersetzung von Carl von Clausewitz’ Vom Kriege. Der Sprachstil ist schwerfällig, aber passabel und ...« Er unterbrach sich und griff nach einem Buch, das aufgeschlagen auf einem Tischchen lag. » Die federleichte Prinzessin? Mrs Finchley, was hat dieses Buch hier zu suchen? Das stand nicht auf meiner Liste.«
»Sir, es soll nur seine Vorstellungsgabe verbessern. Seine Denkfähigkeit.«
Mr Socrates’ Augen verengten sich. »Seine Denkfähigkeit? Wenn er Kinderbücher liest, wird er ein Kind bleiben.« Er reichte ihr das Buch. »Lassen Sie ihn Shakespeare oder Coleridge lesen, wenn Sie schon solche Hirngespinste fördern müssen. Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt: Alle weiteren Bücher, die nicht auf der Liste stehen, müssen erst von mir geprüft werden.«
»Es wird nicht mehr vorkommen, Sir.«
Modo blickte auf seine Füße. Er schämte sich, dass Mr Socrates wusste, dass er Gefallen an einem Kinderbuch gefunden hatte. Benehme ich mich zu sehr wie ein Kind?
Mr Socrates wandte sich erneut Modo zu. »Tharpa lobt deine Gewandtheit und Stärke. Er hält dich für einen fähigen Schüler.«
Modo wurde rot.
»Vier Jahre sind vergangen, seit ich dich gerettet habe. Vier Jahre, die du in diesen drei Räumen verbracht hast. Und du warst außerordentlich fleißig im Training und bei deinen Studien. Ich bin sehr zufrieden mit deiner Leistung.« Er legte Modo eine Hand auf die Schulter.
Verhält sich so vielleicht ein Vater?, fragte sich Modo. Mr Socrates war nicht Modos Vater, aber er war derjenige, der dieser Rolle am nächsten kam.
Mr Socrates zog seine Hand zurück und blickte sie an, als hätte ihn seine Geste überrascht. »Du bist die Investition wert, Modo. Nun, würdest du gern einmal die Außenwelt kennenlernen?«
»Oh ja, ja!«, rief Modo aus und strahlte. Dann riss er sich zusammen und erwiderte etwas beherrschter: »Das würde mir große Freude bereiten, Sir.«
»Geduld, Modo. Der Tag kommt früh genug. Heute haben wir eine andere, wichtigere Lektion vor uns. Doch ich muss dich warnen, es ist eine sehr harte Lektion.«
»Ich verstehe nicht«, entgegnete Modo.
»Nun ja, in all der Zeit hast du kein einziges Mal dein Spiegelbild gesehen, nicht wahr, Modo?«
Mrs Finchley räusperte sich. »Mr Socrates, ich ...«
»Dies ist nicht der passende Zeitpunkt für Zwischenbemerkungen, Mrs Finchley«, entgegnete er, ohne seinen Blick von Modos Gesicht abzuwenden. »Bevor du die Welt draußen kennenlernst, musst du zunächst dich selbst kennen. Verstehst du?«
Modos Augen wanderten zwischen seiner Lehrerin und seinem Herrn hin und her und blieben schließlich wieder an Mr Socrates hängen.
»Verstehst du?«
Modo nickte zögernd.
Daraufhin zog Mr Socrates einen kleinen Handspiegel aus seiner Jackentasche. Die Rückseite zierten Goldintarsien, die einen der Löwen des königlichen Wappens darstellten. Der Junge betrachtete den glitzernden Spiegel wie hypnotisiert. Mr Socrates richtete ihn langsam auf Modos Gesicht.
Modo blickte hinein und zum ersten Mal in seinem Leben blinzelten ihn seine eigenen Augen an. Ein Auge war größer als das andere und wölbte sich vor wie das eines Insekts. Seine riesigen Zähne waren krumm. Leuchtend rotes Haar wuchs in Büscheln auf seinem Kopf. Er hatte sich alle erdenklichen Variationen seines Gesichts ausgemalt, von schön über narbenbedeckt bis hässlich – aber der Anblick
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