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Auf und davon

Auf und davon

Titel: Auf und davon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Thomas
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der
Straße.“
    „Und wie geht es dann weiter?“
    Nathan hatte keine Ahnung. „Ich weiß
nicht. Irgendwohin. Weit weg.“
    „Laufen wir wirklich weg?“ Sie konnte
es noch immer nicht recht glauben, selbst jetzt noch nicht.
    „Natürlich, Doofkopf.“
    Nur ein oder zwei Meter neben ihnen
donnerte ein Zug vorbei.
    „Wo fährt der Zug hin?“ fragte Julia,
die noch kaum aus ihrem Stadtteil herausgekommen war.
    „Nach Euston, glaub ich“, antwortete
Nathan. Er besuchte mit seinen Eltern gelegentlich Verwandte auf der anderen
Seite Londons.
    „Dann könnten wir doch mit dem Zug nach
Euston fahren, oder?“
    „Okay.“
    Der Vorschlag war so gut wie jeder
andere.
    Sie erreichten die Straße. Nathan hob
den Kopf und schaute sich vorsichtig um, so gut das mit einem ganzen und einem
gesprungenen Brillenglas möglich war.
    „Jetzt“, zischte er.
    Sie liefen gebückt durch den Graben, in
dem knöchelhoch der Abfall lag. Über den Bürgersteig gingen einige Leute, doch
niemand nahm auch nur die geringste Notiz von ihnen. Die Leute waren es
gewohnt, daß Kinder unerlaubterweise am Bahndamm spielten, und solange es nicht
ihre Kinder waren, ging sie das nichts an.
    Von hier aus zum Bahnhof waren es nur
ein paar Schritte. Falls Nathans Schwestern ausgeschickt worden waren, um nach
Nathan zu suchen, hätten sie ihn jetzt sehen können, aber das Risiko war nicht
sehr groß.
    Bei dem Gedanken an seine Schwestern
fiel Nathan auch seine Mutter ein, doch er zwang sich dazu, nicht an sie zu
denken. Wenn er an seine Mutter dachte, wurde er traurig. Er wurde sogar ein
bißchen traurig, wenn er an seinen Vater dachte. Aber da mußte er jetzt durch.
Er mußte gehen, er mußte einfach.
    „Ich hole die Fahrkarten“, sagte Julia.
„Du versteckst dich solang. Der Fahrkartenmann braucht uns nicht zusammen
sehen, sonst denkt er noch, da ist was faul.“
    Nathan drückte sich vor der
Schalterhalle herum, während Julia hineinging.
    „Zwei Fahrkarten nach Euston“, sagte
sie zu dem Mann hinter dem Schalter.
    „Halbe?“ fragte der Mann.
    „Ja, halbe“, antwortete Julia.
    „Hin und zurück oder einfach?“
    „Was?“
    „Fahrt ihr auch wieder zurück?“
    „Nein“, sagte Julia. „Einfach, bitte.“
    Sie hatte vergessen, daß es einfache
Fahrkarten und Rückfahrkarten gab. Fast hätte sie es verpatzt. Sie hatte sich
eine Geschichte zurechtgelegt von ihrer großen Schwester, mit der zusammen sie
unterwegs war, doch der Mann fragte nicht danach. Er fragte nicht einmal, als
sie ihm den Zwanzigpfundschein gab. Julia hatte sich auch eine Geschichte zu
dem Zwanzigpfundschein ausgedacht, doch keiner wollte sie hören. Der Mann am Schalter
gab ihr die beiden Fahrkarten und das Wechselgeld ohne Kommentar.
    Julia ging nach draußen und gab Nathan
seine Karte. Getrennt gingen sie durch die Sperre und die Treppe zum Bahnsteig
hinunter. Der Zug kam bald, und mit den anderen Fahrgästen stiegen sie ein.
Niemand sprach sie an, weil sie allein unterwegs waren, niemandem fielen sie
auf. Selbst das zerbrochene Brillenglas und der zerrissene Rock erregten
keinerlei Aufsehen. Jetzt waren sie wirklich unterwegs, und alles lief fast zu
glatt.
    „Laufen wir wirklich weg?“ fragte Julia
noch einmal.
    „Ja!“
    Es stimmte. Es war wirklich so. Julia
bekam weiche Knie. Sie war froh, daß sie auf der Bank saß.
    „Sind wir bald da?“ fragte Julia.
    „Halt die Klappe“, sagte Nathan
ärgerlich. „Was fragst du denn dauernd?“
    Als der Zug wieder langsamer fuhr,
sahen sie das Schild. EUSTON stand in großen Buchstaben darauf.
    „Was steht da?“ fragte Julia.
    „Kannst du nicht lesen?“ fragte Nathan,
und da erst fiel ihm ein, daß sie es tatsächlich nicht konnte.
    Julia wurde rot und drehte den Kopf
weg.
    Der Bahnhof war ganz anders als der
helle, freundliche, von dem aus sie losgefahren waren. Dieser Bahnhof war
überdacht, düster und irgendwie unheimlich. Sie gingen zum Ausgang. Die große,
marmorne Halle, in die sie kamen, ließ sie staunen. Selbst Nathan staunte. Er
war zwar schon einmal hier gewesen, hatte jedoch vergessen, wie groß alles war.
Es duftete nach gebratenem Fleisch.
    „Ich hab Hunger“, sagte Nathan. Er
hatte seit dem Mittagessen nichts mehr gegessen, und auch Julia stellte fest,
daß sie wieder hungrig war. Sie entdeckten einen Burger-Stand und noch einige
andere Stände, an denen warmes Essen verkauft wurde. Sie kauften sich beide
einen Hamburger und eine Dose Cola und schauten sich dann nach einer
Sitzgelegenheit um.

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