Auf und davon
gemacht. Wir
sind weggelaufen. Wir haben alles noch schlimmer gemacht. Wenn sie uns vorher
was Schlimmes antun wollten, wird es jetzt was noch Schlimmeres.“
„Was denn? Was können sie uns denn tun?“
„Keine Ahnung. Was Schlimmes eben. Was
sehr Schlimmes.“
„Ach, Nathan, sag doch so was nicht!“
„Sie sind bestimmt furchtbar wütend.“
Julia begann zu weinen.
„Heulen bringt jetzt auch nichts. Los,
Rattengesicht, hör auf zu heulen, das hilft uns nicht weiter. Hör zu, morgen
gehen wir woanders hin, wo es gut ist.“
„Wo kann man denn hingehen, wo es gut
ist?“
Nathan überlegte. Er hatte sich einen
wunderbaren Traum ausgedacht, aber er war noch nicht bereit, ihn mit jemandem
zu teilen — es war ja auch nur ein Traum. „Gehen wir an die Küste“, sagte er
schließlich.
„Oh, ja!“ Julia vergaß für einen
Augenblick ihre Angst. „Das machen wir!“
Die Vorstellung, an die Küste zu gehen,
war irgendwie beruhigend. Sie lenkte sie von den gespenstischen Geräuschen um
sie herum ab, den echten wie den eingebildeten. Sie lenkte genauso von dem
harten Boden ab, von dem modrigen Geruch der Säcke und dem Brennen der
aufgeschürften Knie. Julia schlief ein wenig und Nathan auch.
Die dunklen Stunden vergingen.
Nach einer unruhigen Nacht wachten
Nathan und Julia auf — steif, kalt und schon wieder hungrig. Und voller Angst.
Jetzt waren sie wirklich ganz auf sich allein gestellt. Sie gegen den Rest der
Welt.
„Zu welcher Küste sollen wir gehen?“
fragte Julia tapfer. „Keine Ahnung. Egal.“
„Ich war mal in Brighton. Mit dem Bus.
Sollen wir nach Brighton fahren?“
„Okay. Mir ist es egal.“ Nathan war
noch nie am Meer gewesen, er hatte nur darüber gelesen. Ihm war jede Küste
recht.
Sie dachten an Brighton und schwiegen.
Am Meer war es wunderschön. Das wußte selbst Nathan, obwohl er noch nie
dagewesen war. Wenn sie erst mal an der Küste waren, würde alles gut werden.
„Gehen wir“, sagte Nathan schließlich.
Sie standen auf und klopften sich den
Staub aus den Kleidern. Sie fühlten sich schrecklich unwohl, nachdem sie eine
Nacht lang in ihren Kleidern geschlafen hatten. Als sie zu der Lücke in dem
grünen Bauzaun gingen, wären sie fast über einen Haufen Lumpen gestolpert, der
am Abend noch nicht dagelegen hatte.
Der Lumpenhaufen regte sich, setzte
sich auf und stierte sie über einen verfilzten Bart hinweg an. Es war ein
Penner in einem schmutzigen alten Mantel. In Panik liefen die beiden davon,
obwohl der Mann ganz offensichtlich harmlos war.
„Wie der gerochen hat“, sagte Julia und
schüttelte sich.
„Das ist, weil er sich nie wäscht.“
„Ich hab mich gestern abend auch nicht
gewaschen. Bald rieche ich genauso.“
„Du riechst nicht, Julia.“
„Noch nicht, aber bald.“ Der Gedanke
bereitete ihr Kopfzerbrechen. Sie ging zur Damentoilette am Bahnhof und stand
zögernd vor dem Waschbecken. Selbst so früh am Morgen herrschte hier schon
reger Betrieb, so daß sie sich nicht richtig waschen konnte. Sie spritzte sich
Wasser ins Gesicht und wusch sich die Hände. Danach fühlte sie sich etwas
besser. Sie hatte vergessen, einen Kamm einzustecken und mußte sich damit
begnügen, ihre zerzausten Haare mit den Händen glattzustreichen. Sie löste ihre
Zöpfe und flocht sie neu. Als sie ihr Gesicht in dem trüben Spiegel sah, dachte
sie nicht zum erstenmal: Ich bin wirklich häßlich, kein Wunder, daß meine
Mutter mich nicht mag.
Julia und Nathan kauften sich zum
Frühstück Butterkekse und Cola. Inzwischen waren jede Menge Leute im Bahnhof. „Sollen
wir jetzt die Fahrkarten nach Brighton kaufen?“ fragte Julia. „Dieses Mal holst
du sie, Nathan. Du bist dran.“ Ermutigt von Julias Erfolg am Vortag ging Nathan
arglos zum Schalter.
„Zwei Halbe nach Brighton“, sagte er
zuversichtlich. „Wohin?“ Der Mann am Schalter glaubte, sich verhört zu haben.
„Nach Brighton. Zwei Halbe bitte.“
„Da bist du am falschen Bahnhof. Die
Züge nach Brighton fahren vom Victoria-Bahnhof ab.“
„Und wie komme ich zum
Victoria-Bahnhof?“
Der Mann am Schalter schaute Nathan
scharf an. „Zwei Halbe, hast du gesagt? Nach Brighton? Zwei Kinder, und ihr
seid allein unterwegs?“
„Ja. Ich meine, nein. Ich und meine
Mutter. Meine Mutter ist da drüben.“
„Deine Mutter fährt mit einer
Kinderfahrkarte?“
„Nein. Ich will auch keine zwei
Kinderfahrkarten. Ich will eine halbe und eine ganze Karte. Ich hab mich
vertan.“
„Und deine Mutter weiß nicht,
Weitere Kostenlose Bücher