Auf und davon
daß die
Züge nach Brighton vom Victoria-Bahnhof aus fahren? Einen Moment, Kleiner.“ Der
Mann am Schalter drehte sich zu einem Kollegen um und sagte etwas zu ihm. Der
andere Mann stand auf. Und Nathan rannte los.
Mit gesenktem Kopf stürmte Nathan in
die Menge, die sich auf die Treppe zur U-Bahn zu bewegte. Julia sah ihn laufen,
und weil sie Angst hatte, ihn aus den Augen zu verlieren, rannte sie hinterher.
Sie tauchten beide in der Menge unter. Es gab verwirrend viele Rolltreppen und
Seitengänge. An einer Stelle war eine Fahrkartenkontrolle, doch es drängten
sich so viele Leute durch, daß die Frau es aufgegeben hatte, jeden zu
kontrollieren.
Sie sprangen in eine U-Bahn, und die
Bahn glitt aus dem Bahnhof. Es gab keine freien Plätze, so daß sie stehen
mußten. Julia war durch einen dicken Geschäftsmann und ein paar schwatzende
Frauen von Nathan getrennt. Sie hielt sich an einer der herunterhängenden
Halteschlaufen fest, als der Zug ruckelte und schwankte. Nathan war zu klein,
um an die Halteschlaufen zu kommen, doch die Körper, zwischen denen er
eingezwängt war, hielten ihn auch so aufrecht. Als der Zug nach ein paar
Stationen wieder hielt, drängelte sich Nathan durch die Leute auf den
Bahnsteig. In Panik und mit zittrigen Beinen folgte Julia ihm.
„Komm“, drängte Nathan.
Julia stand völlig verwirrt da. Nathan
gab ihr einen Stoß in den Rücken, damit sie sich wieder in Bewegung setzte, und
sie schoben sich mit der Menge durch etliche Gänge, dann Rolltreppen hinauf und
hinunter und in immer neue Bahnen hinein. Es war ein Alptraum.
Schließlich waren sie in einer Bahn,
die nur halb besetzt war und wo sie zwei freie Plätze nebeneinander fanden.
„Wohin fahren wir, Nathan?“ fragte
Julia kläglich. Ihr Herz klopfte wild, und vor Aufregung und Angst war sie
völlig erschöpft.
Nathan schaute sich mit
zusammengekniffenen Augen — wegen des gesprungenen Brillenglases — vorsichtig
um. „Alles in Ordnung“, verkündete er schließlich. „Niemand folgt uns. Aber es
war knapp“, fügte er hinzu. „Fast hätten sie uns geschnappt.“
Tatsache war, daß kein Mensch in Euston
sich die Mühe gemacht hatte, den beiden nachzulaufen.
„Ist das der Zug nach Brighton?“ fragte
Julia.
„Nein, wir müssen erst zum Victoria-Bahnhof.“
„Fährt der Zug denn da hin?“
„Nein. Keine Ahnung. Keine Ahnung, wo
er hinfährt.“
Bei der nächsten Haltestelle stiegen
sie aus. Der Bahnhof hieß „Bank“.
„Ist das Victoria?“ fragte Julia.
„Nein, ich hab’s dir doch gesagt, wir
müssen erst noch rauskriegen, wie wir da hinkommen. Wir müssen uns die U-Bahn-Karte
anschauen und dann die richtigen Linien raussuchen. Das ist nicht schwer — ich
hab’s schon mal gemacht.“
Nathan arbeitete eine Route aus, und
weiter ging die Reise unter den Straßen Londons.
Jetzt, wo sie sich etwas sicherer
fühlten und ihre Aufmerksamkeit auch anderen Dingen zuwenden konnten, entdeckte
Nathan ein Schild in dem Waggon, in dem sie saßen. Darauf stand, daß jeder, der
ohne Fahrschein erwischt würde, Schreckliches zu befürchten hätte — zumindest
klang es für Nathan so.
„Ich weiß nicht, wie wir hier wieder
rauskommen sollen“, gab er zu. „Wir haben keine Fahrscheine, und die werden sie
am Ausgang sehen wollen.“
„Können wir nicht genauso raus, wie wir
reingekommen sind?“ fragte Julia. „Ich meine, wir könnten uns doch wieder
zwischen den anderen Leuten durchdrängeln.“
Am Victoria-Bahnhof warteten sie, bis
sich vor der Sperre eine Menschenmenge gesammelt hatte. Dann drängelten sie
sich zu zwei Erwachsenen durch, die aussahen, als könnten sie ihre Eltern sein,
und wie in Euston kümmerte sich der Kontrolleur auch hier nicht um sie. Sie
waren durch.
Julia hatte es nicht eilig, die Karten
nach Brighton zu besorgen. Ein Gefühl sagte ihr, daß es gefährlich sei, einfach
zum Schalter zu marschieren und danach zu fragen. Sie war wieder dran, und da
Nathan Schwierigkeiten bekommen hatte, konnte sie vielleicht auch welche
kriegen. Aus irgendeinem Grund nahmen Erwachsene nicht an, daß Kinder allein
nach Brighton reisten. Vielleicht wegen der großen Entfernung.
„Ich will mir was überlegen“, sagte
Julia. „Ich will mir eine gute Geschichte überlegen.“
Sie strolchten durch die Läden und
Stände im Bahnhof. Sie tranken Cola, und Julia kaufte eine kleine Rolle
Klebeband, mit dem sie ihr zerrissenes Kleid flicken wollte. In zerrissenen
Kleidern bis Brighton zu reisen, machte
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