Auf und davon
Da sie keine Stühle oder Bänke sahen, setzten sie sich auf
den Boden.
Mit großem Appetit bissen sie in die
Brötchen. „Ich hol mir noch einen“, sagte Nathan. Er machte gerade die
Entdeckung, daß es äußerst angenehm war, fast unbegrenzte Mengen Geld zu
besitzen. Man konnte sich zwei Hamburger kaufen, wenn man wollte — sogar drei,
wenn einem danach war. Julia kaufte sich zwei Schokoriegel. Ihr war ein bißchen
übel, nachdem sie beide gegessen hatte, aber die Sache fing an, ihr Spaß zu
machen. Weglaufen ist in Ordnung, dachte sie, auch wenn da im Bauch noch dieses
unangenehme Gefühl war, das nichts mit den beiden Schokoriegeln zu tun hatte.
Es saßen noch andere Leute neben Nathan
und Julia auf dem Boden. Einige davon sahen reichlich mitgenommen aus. „Sie
haben zuviel getrunken“, sagte Nathan mißbilligend. Diejenigen, die zuviel
getrunken hatten, kümmerten sich nicht um Nathan und Julia, aber von den
anderen warfen ein paar den beiden merkwürdige Blicke zu.
„Gehen wir“, sagte Julia. „Sonst fragt
uns noch jemand, was wir hier suchen.“
„Okay. Ich bin ohnehin müde.“
„Wo schlafen wir denn?“
„Weiß nicht. Irgendwo.“
Bis zu diesem Augenblick war keinem von
beiden so richtig klar gewesen, daß sie ja kein Bett hatten für diese Nacht. „Vielleicht
finden wir wieder ein leerstehendes Haus“, meinte Nathan hoffnungsvoll.
„Dann laß uns nach einem suchen.“
Es wurde langsam dunkel. Es gab keine
Häuser, weder leerstehende noch andere, nur hohe Backsteinmauern auf der einen
Straßenseite und auf der anderen einen grünen Bauzaun um eine riesige Baustelle.
Die Kräne überragten den Bauzaun meterhoch.
„Sollen wir mal schauen, ob wir da
reinkommen?“ fragte Julia. Sie überquerten die Straße und suchten nach einer
Möglichkeit, auf die Baustelle zu kommen. Durch Ritzen im Zaun sahen sie, daß
zumindest ein Teil des halbfertigen Gebäudes bereits überdacht war. Der
Fußboden sah hart und schmutzig aus, aber sie hätten wenigstens ein Dach über
dem Kopf.
„Es muß eine Tür geben“, überlegte
Julia logisch. „Die Bauarbeiter müssen doch auch irgendwie reinkommen.“
Plötzlich standen sie vor einer kleinen
Lücke im Zaun, gerade groß genug, daß sie hintereinander durchschlüpfen
konnten. Außer einer Frau, die ihren Hund Gassi führte, war niemand zu sehen.
Julia und Nathan gingen langsam an der Zaunlücke vorbei, bis die Frau um die
nächste Ecke verschwunden war. Dann machten sie rasch wieder kehrt und
schlüpften durch.
„Wir haben es geschafft“, sagte Nathan
und lächelte zum erstenmal an diesem Abend.
Sie wählten ihren Schlafplatz hinter
einer Säule und räumten Kieselsteine und Zementbrocken weg. Aber der harte
Boden war schrecklich kalt. Da entdeckte Julia in einer Ecke einen Haufen alter
Säcke. Sie holte sich zwei, um so etwas wie ein Bett daraus zu machen.
„Und was ist mit mir?“ fragte Nathan.
„Du kannst dir selber welche holen. Ich
bin doch nicht dein Dienstmädchen.“
Die Säcke waren sehr schmutzig, doch es
war besser als frieren.
Sie drehten sich von einer Seite auf
die andere, um eine einigermaßen bequeme Stellung zu finden.
„Mir gefällt es hier nicht“, sagte
Julia nach einer Weile. „Es ist gruselig. Ich kann nicht einschlafen.“
„Halt die Klappe“, sagte Nathan
ärgerlich.
„Nein, ich halte meine Klappe nicht.
Ich mag Euston nicht. Und das Davonlaufen gefällt mir auch nicht mehr. Zuerst
hab ich gedacht, es gefällt mir, aber jetzt gefällt es mir nicht mehr. Es ist
alles furchtbar, und ich hab Angst... Was war das?“
Das Geräusch kam aus der Richtung, in
der die Lücke im Bauzaun war. Es hätten Schritte sein können. In panischer
Angst klammerte sich Julia an Nathan.
„Still“, flüsterte Nathan, aber er
hatte auch Angst.
„Da kommt jemand! Oh, Nathan, ich hab
solche Angst! Komm, wir rennen! Laß uns rennen!“
„Pssst.“
„Vielleicht ist es ein Räuber, der mein
Geld klauen will.“
„Pssst. Sie sind weg. Ich glaube
wenigstens, daß sie weg sind.“ Sicher war sich Nathan jedoch keineswegs. Er
schluckte den dicken Brocken Angst in seiner Kehle hinunter.
„Ich will heim“, sagte Julia kläglich.
„Wir können aber nicht“, erwiderte
Nathan, obwohl er sich plötzlich nichts mehr wünschte, als daß sie es doch
könnten.
„Doch, wir können. Warum können wir
nicht? Es ist mir egal, wenn meine Mutter mich schlägt. Das ist immer noch
besser als das hier.“
„Aber wir haben’s jetzt
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