Auf und davon
Flur. Sie brachte
sicher das versprochene Abendessen. Plötzlich wußte Julia, was sie tun mußte.
Vielleicht funktionierte es nicht, aber einen Versuch war es wert. Sie drückte
das Gesicht ins Kopfkissen und atmete tief und gleichmäßig. Julia?“
Die Stimme der Mutter war ein scharfes
Flüstern. Julia atmete gleichmäßig weiter. Sie spürte, wie die Mutter da stand
und nicht wußte, was sie tun sollte. Dann hörte sie die Mutter das Zimmer
verlassen. Ihr Instinkt sagte ihr, daß es besser sei, liegenzubleiben und
weiter so zu tun, als schlafe sie, und einen Augenblick später kam die Mutter
tatsächlich zurück. Julia spürte, wie eine Decke über sie gelegt wurde, ganz
vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken.
Dann ging die Mutter auf Zehenspitzen
wieder aus dem Zimmer, und Julia war allein. Die Zimmertür blieb einen
Spaltbreit offen.
Verwirrt und unentschlossen blieb Julia
immer noch liegen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihre Mutter sie das
letzte Mal zugedeckt hatte. Vielleicht mag sie mich doch, dachte sie. Das
Zuhause, das sie verlassen wollte, erschien ihr plötzlich besonders gemütlich
und sicher. Natürlich war da noch die Polizei, doch vielleicht würde die Mutter
sich ja für sie einsetzen — sich zwischen sie und das Schreckliche stellen, was
die Polizei ihr an tun wollte.
Wenn Mutter sich für mich einsetzt,
dachte Julia, laufe ich nicht weg.
Vielleicht redeten sie gerade über sie,
die Mutter und Vince. Julia stand auf und schlich zur Wohnzimmertür. Sie
schämte sich nicht, das Gespräch zu belauschen, das hatte sie schon oft getan.
Sie konnte erwischt werden, aber wenn schon. Schlimmer, als es bereits war,
konnte es für sie kaum werden.
Julia legte das Ohr an die Tür und
hörte die Stimme der Mutter: „...Jetzt ist das Maß voll, wirklich voll. Sie war
schon immer ein schwieriges Kind, Vince, du kannst dir das gar nicht
vorstellen, aber jetzt ist das Maß voll.“
Vince sagte etwas, das Julia nicht
verstand. Dann hörte sie wieder die Stimme der Mutter, laut und schrill: „Was
soll ich denn mit ihr machen? Sag es mir, Vince, was soll ich mit ihr machen?“
„Wie wäre es mit einer gehörigen Tracht
Prügel für den Anfang?“
Das war deutlich. Julia erstarrte vor
Angst.
„Gute Idee.“ Julias Mutter lachte.
Natürlich hätte sie nie zugelassen, daß Julia geschlagen wurde, aber sie nahm
an, Vince erwartete, daß sie als Antwort auf seinen Scherz lachte.
Julia schlich zurück in ihr Zimmer. Sie
wollten sie verprügeln, und das war nur der Anfang! Und die Mutter hatte
tatsächlich gelacht! Wie grausam. Julia suchte nach etwas, in das sie ihre
Kleider stecken konnte.
Die Reisetasche lag selbstverständlich
wieder an ihrem Platz auf dem Schrank der Mutter. Das einzige Behältnis, das
für Julia erreichbar war, war die Plastiktüte, in der sie manchmal Sachen mit
zur Schule nahm. Sie war groß genug für ihre Unterwäsche und die Strickjacke,
aber das zweite Paar Schuhe mußte sie zurücklassen. Den Anorak zog sie an. Sie
nahm einen Zwanzigpfundschein aus der Tüte, die sie sich um die Taille gebunden
hatte, und steckte ihn in die Anoraktasche. Dann war sie fertig.
Inzwischen waren andere Geräusche zu
hören. Im Wohnzimmer war der Fernseher eingeschaltet worden. Offensichtlich
lief gerade ein Krimi mit Verfolgungsjagd, denn man hörte Reifenquietschen und
laute Stimmen.
Vorsichtig öffnete Julia ihre Zimmertür
ein Stück weiter und schlich auf den Flur. Ihr Herz klopfte so laut, daß sie
den Eindruck hatte, es übertönte die Geräusche aus dem Fernseher. Plötzlich
waren das Reifenquietschen und die Stimmen doppelt so laut, und ein Lichtstreif
von der offenen Wohnzimmertür fiel durch die Küche auf den Flur. Jemand ging
zur Toilette.
Julia schlüpfte zurück in ihr Zimmer
und blieb hinter der Tür stehen. Sie traute sich kaum zu atmen und hoffte, daß
niemand sie bemerkt hatte. Sie hörte die Toilettenspülung und die schweren
Schritte von Vince, als er ins Wohnzimmer zurückging.
Diesmal schlich sie bis zur Treppe, und
dann nach unten. Warum war ihr vorher nie aufgefallen, wie laut zwei der Stufen
knarrten? Jeden Augenblick mußte jemand kommen! Doch keiner kam. Das
Reifenquietschen und die Stimmen drangen jetzt auch aus Mrs. McCarthys Wohnung.
Der Lärm übertönte alle Geräusche, die Julia beim Durchqueren des unteren Flurs
und beim Offnen der Haustür machte. Dann stolperte sie nach draußen auf die
Straße.
So schnell sie konnte, lief Julia zum
Ende der Straße.
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