Auf und davon
Es spielte keine Rolle, ob jemand sie sah. An einem
Sommerabend um halb neun noch auf der Straße zu sein, war nicht verdächtig.
Später, wenn man sie vermißte und Fragen gestellt wurden, mochte sich ruhig
jemand daran erinnern, daß er sie gesehen hatte. Dann würden sie und Nathan
schon weit weg sein.
Sie hatte inzwischen die Straße
erreicht, in der das leere Haus stand. Es waren noch ziemlich viele Leute
unterwegs, aber Sorgen machte sie sich deshalb keine mehr. Wenn nur Nathan noch
auf sie wartete und nicht schon gegangen war!
Sie stieß die halb vermoderte Tür auf
und rief in den Flur: „Nathan? Bist du noch da?“
Er war noch da. Er kauerte in einer
Ecke auf einem Haufen Lumpen. „Halt die Klappe, Rattengesicht!“ zischte er. „Oder
willst du, daß alle uns hören?“
Tränen rollten ihm unter der Brille
hervor über die Wangen.
„Warum weinst du?“ fragte Julia im
Flüsterton.
„Wegen nichts. Ich weine nicht.“
Natürlich konnte er nicht zugeben, daß
er vor Erleichterung weinte, vor Erleichterung darüber, daß sie doch noch
gekommen war, zu einem Zeitpunkt, als er schon dachte, sie hätte es sich anders
überlegt. Als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte.
„Komm“, sagte er unfreundlich, „gehen
wir.“
„Wohin?“
„Wir gehen einfach mal.“
Überall sonst war es besser als hier.
Überall, nur weg von dem Gürtel und der Polizei und den unbekannten Schrecken. „Sie
suchen bestimmt bald nach uns, also beeilen wir uns.“
„Okay, Nathan, ich komme. Ich komm mit.“
Jetzt, wo sie zu zweit waren, war
wieder alles in Ordnung. Sein altes Selbstvertrauen kehrte zurück, und Nathan
ging voraus auf die Straße. Julia hinterher.
5.
Das Abenteuer
beginnt
Nathan und Julia verließen das Haus
durch die Hintertür. Der winzige, betonierte Hof war von einem stabilen
Stacheldrahtzaun umgeben. Dahinter lagen in einem tiefen Einschnitt die
Schienen, über die in unregelmäßigen Abständen die Züge zuckelten oder
donnerten.
„Wir gehen runter zu den Schienen“,
sagte Nathan, „dort sieht uns keiner.“
„Über den Zaun?“
„Natürlich.“
„Ich kann nicht klettern.“
„Das ist ganz einfach.“ Nathan nahm
Anlauf und übersprang den Zaun mitsamt den Eisenstacheln geschmeidig wie eine
seiner Katzen. „Jetzt du, komm.“
„Ich kann nicht.“
„Komm schon. Wenn du dich nicht
beeilst, schnappen sie uns noch. Sie fangen bestimmt jeden Augenblick an zu
suchen.“
„Nach mir suchen sie nicht. Sie
glauben, ich liege im Bett und schlafe.“
„Aber nach mir suchen sie. Außerdem ist
es nicht erlaubt, auf den Schienen zu sein.“
Julia schaute sich nach etwas um, das
ihr als Leiterersatz dienen konnte. Ein alter Blumenkübel half, daß sie einen
Fuß über den Zaun heben konnte. „Halt meinen Fuß fest“, rief sie Nathan zu. Sie
warf die Plastiktüte auf die Geleise und hielt sich mit beiden Händen am Zaun
fest.
„Jetzt spring“, sagte Nathan. Er wußte,
daß sie es nicht schaffen würde, aber eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Ungeschickt stieß sich Julia ab, und ihr Fuß traf Nathan mitten ins Gesicht,
als sie alle beide auf den Boden kullerten. Sie hörten das eklige Geräusch von
reißendem Stoff. Julia war hängengeblieben. Nathan wurde die Brille von der
Nase gerissen, und Julia landete beim Fallen auf ihm. Beide waren unverletzt,
doch Julias Kleid hatte hinten einen langen Riß, und als sie Nathans Brille
endlich fanden, mußten sie feststellen, daß ein Glas mittendurch gesprungen
war. Ein schlechter Start.
Julia rappelte sich hoch und
untersuchte den Riß in ihrem Kleid.
„Runter!“ zischte Nathan.
Julia setzte sich ins hohe Gras.
„Ganz runter“, befahl Nathan.
„Du hast gesagt, hier sieht uns keiner.“
„Wenn wir stehen, schon. Wir müssen uns
ganz unten im Gras halten. Wir müssen kriechen.“
Sie krochen auf allen Vieren vorwärts,
und das hohe Sommergras wogte. Falls in einem der Fiäuser auf der
gegenüberliegenden Bahndammseite jemand aus dem Fenster geschaut hätte, hätte
er die Kinder sofort gesehen, doch das Kriechen im Gras gab ihnen zumindest die
Illusion, vor Blicken geschützt zu sein. Allerdings war es mühsam. Die vom
Regen zwar weiche Erde war voller Steine, an denen man sich Knie und Ellenbogen
aufschürfte. Julia hatte das Gefühl, daß ihre Knie schon völlig blutig
gescheuert waren. Sie hatte genug. „Wie weit noch, Nathan?“ jammerte sie.
„Nicht mehr weit. Wir sind bald an
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