Auf und davon
warst du? Ich hab überall nach dir
gesucht!“
Julias Mutter war mit einem fertigen
Plan von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie hatte sich vorgenommen, dieses Mal
nicht grob zu ihrer Tochter zu sein. Sie wollte freundlich mit ihr reden, sie
davon überzeugen, daß es besser sei, die Wahrheit zu sagen. Doch als sie die
Wohnung leer vorgefunden hatte, hatte Mrs. Winter zuerst die Wut gepackt und
dann Angst. Die Göre hatte doch nichts Dummes getan, oder? Als immer mehr Zeit
verstrich und Julia nicht nach Hause kam, ging die Mutter auf die Straße, um
nach jemandem Ausschau zu halten, der Julia vielleicht gesehen hatte.
Als sie das Haus verließ, hatte sich
Mrs. Winter große Sorgen gemacht. Doch als sie jetzt zurückkam und die Tochter
unversehrt in ihrem Zimmer fand, ging die Angst wieder in Zorn über. Sie vergaß
ihre guten Absichten und begann eine Strafpredigt.
„Daß du mir ja nicht noch einmal wegbleibst,
ohne was zu sagen! Du kommst nach der Schule direkt nach Hause, wie ich es dir
eingeschärft habe. Ob du Probleme hast oder nicht. Ich weiß, daß du Probleme
hast. Ich hab wegen dir auch Probleme und noch viel mehr. — Was versteckst du
da?“
„Nichts.“
„Natürlich versteckst du was. Was ist
das unter dem Bett?“ Mrs. Winter zog die Tasche unter dem Bett vor und kippte
den Inhalt auf den Boden. „Was soll das? Wo wolltest du mit dem Zeug hin?“
„Nirgendwo“, sagte Julia kleinlaut.
„Du tust die Kleider da hin, wo du sie
hergeholt hast. Mach schon, ich will es sehen. Man kann dir ja nicht eine
Minute den Rücken zukehren.“
In hilfloser Wut und Angst tat Julia,
was ihre Mutter gesagt hatte. Kurz darauf sagten ihr Wutschreie aus dem
Schlafzimmer, daß die Mutter das Chaos dort entdeckt hatte. Julia dachte an
Nathan, der in dem leerstehenden Haus auf sie wartete. Sie hatte keine Ahnung,
wie sie zu ihm kommen sollte. Es hatte keinen Zweck, einfach aus dem Haus zu
rennen, wie sie es gesagt hatte. Zu spät erkannte sie, daß die Mutter ihr nur
nachzulaufen brauchte und sie kriegen würde.
„Bist du fertig?“ Die Mutter kam wieder
ins Zimmer, um nachzusehen. „Dann geh jetzt ins Wohnzimmer und bleib da, wo ich
dich sehen kann.“
Das Wohnzimmer bestand nur noch aus der
Hälfte des ursprünglich größten Zimmers im ersten Stock. Der andere Teil des
großen Raumes war zur Küche umfunktioniert worden, und da man nur durch die
Küche zum Wohnzimmer gelangte und Mrs. Winter mit ihrer Arbeit in der Küche
begann, saß Julia in der Falle.
„Ich warte immer noch, daß du mir
sagst, woher du das Geld wirklich hast.“
Jetzt war es soweit. Julia saß im
Sessel und wappnete sich. „Julia!“
Keine Antwort.
„Okay, ich habe keine Zeit, um es heute
abend aus dir rauszuholen. Vince muß jeden Augenblick hier sein. Mit der Suche
nach dir habe ich eine Stunde vergeudet, eine ganze Stunde! Aber ich bring dich
schon noch zum Reden, verlaß dich drauf. Stell jetzt mal den Fernseher an und
versuche, wenigstens einigermaßen menschlich auszusehen!“
Julia schniefte, rührte sich jedoch
nicht.
„Ich hab gesagt, stell den Fernseher
an.“
Julia blieb sitzen.
„Wie du willst. Aber ich will nicht,
daß du mit diesem Gesicht hier rumsitzt, wenn Vince kommt. Du liebe Güte, da
wird ja die Milch sauer! Geh in dein Zimmer, und zwar gleich. Und glaub ja
nicht, daß ich dort nicht auch ein Auge auf dich hätte. Dein Abendessen bringe
ich dir später.“
„Ich hab keinen Hunger“, sagte Julia
und stand auf.
„Red keinen Unsinn. Natürlich hast du
Hunger, du mußt doch was essen.“
Julias Zimmer lag am Ende des langen
Flurs auf der Rückseite des Hauses. Die Treppe lag genau in der Mitte. Von der
Küche aus konnte die Mutter den oberen Treppenabsatz genauso gut überblicken
wie das Wohnzimmer. Julia saß immer noch in der Falle.
Sie schloß die Tür zu ihrem Zimmer
hinter sich und suchte krampfhaft nach einer Möglichkeit, ungesehen aus dem
Haus zu kommen. Sie ging zum Fenster und schaute hinunter. Zum Springen war es
zu hoch, und es gab nichts, an dem sie hätte hinunterklettern können, selbst
wenn sie geschickt genug dazu gewesen wäre. Außerdem war da unten nur der
winzige Hinterhof mit hohen Mauern. Ein Tor zur Straße gab es nicht.
Sie legte sich angezogen aufs Bett, und
bald hörte sie die Türglocke und dann die Stimme ihrer Mutter, die Vince unten
an der Haustür begrüßte. Sie hörte, wie die beiden in die Küche gingen und
dann, sehr viel später, die Schritte ihrer Mutter auf dem
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