Aufbruch der Barbaren
du nichts mehr entdeckt?«
»Ich habe deinen Sohn gewaschen und genau angesehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich fand nichts mehr.«
»Dann ist es Einbildung. Wir sehen Dinge, die nicht da sind. Es mag Zauberei sein… ein Trick der Finsternis. Nicht an dem Kind müssen wir die Gefahr suchen, sondern an uns. Eben glaubte ich noch, diesen Fleck zu sehen. Aber ihr habt ihn alle nicht gesehen. Wir sind unserer Sinne nicht mehr mächtig…«
»Und wenn dein Sohn das Zeichen des Wolfes hätte, wie Juccru sagt, was wäre dann?« fragte Urgat verwirrt.
»Dann wäre der Alptraum wahr, der mich quält«, erklärte Nottr. »Er ist zur Stunde des Wolfes geboren worden, und seine Mutter ist bei den Wölfen. Der Geist, der mich in den vergangenen Nächten besuchte, wäre zu Recht gekommen, um das Kind zu fordern, um ihr Anführer zu sein…«
»Ihr Anführer…?«
»Der Wölfe, die nicht von unserer Seite weichen. Deshalb sollt ihr heute bei mir bleiben, um mir zu bestätigen, daß es nur ein Traum ist… oder die Wirklichkeit…«
»Wir… du… erwartest einen Geist…?« stammelte Urgat.
»Keine Furcht, Quarenführer«, beschwichtigte der Schamane. »Und wenn hundert deinesgleichen hier stünden, die Geister würden dennoch mit mir sprechen.«
»Der Geist ist Olinga… wie schon einmal, erinnerst du dich, Urgat? Damals, als wir Skoppr verloren?«
Urgat nickte, die Zähne in die Unterlippe vergraben. Diese Erinnerung erfüllte ihn mit Furcht.
»Sie bittet um das Kind und sagt, daß die Wölfe es sich mit Gewalt holen werden, wenn ich nicht einwillige. Das ist nicht das Wirken der Finsternis, wie ich sie kenne. Die Finsternis würde Schwert und Feuer und Dämonen schicken und das Kind holen, statt mir Nacht für Nacht Olinga in die Arme zu legen. Aber es ist immer wie ein Traum. Ich war nie wach genug, sie festzuhalten, oder ihren Spuren zu folgen. Ich war nur stark genug, nein zu sagen. Der Junge gehört mir… nicht den Wölfen!« Die Heftigkeit der Worte und der Erinnerungen ließen Nottr nicht still sitzen. So wurde der Junge an seiner Brust wach, doch nach einigen unzufriedenen Lauten schlief er erneut ein. Ruhiger fuhr Nottr fort: »Aber gestern nacht sah Juccru die Spuren. Sag es ihnen, Juccru.«
Der Schamane berichtete von den Menschen- und den Wolfsspuren, und Srube wurde im Schein des Feuers bleich.
»Da ist etwas, das du wissen mußt, Hordenführer.«
Er nickte.
Sie sah ihn fragend an.
»Du kannst vor ihnen reden.«
Sie zögerte, aber schließlich nickte sie. »Auch ich hatte in den vergangenen Nächten einen Traum, Hordenführer. Ich sah einen Wolf in mein Zelt kommen und deinen Sohn betrachten…«
»Was tat er?« fragte Nottr erschrocken.
»Nichts. Er starrte ihn nur an.«
»Weshalb hast du mir das nicht gesagt?«
»Aber es war nur ein Traum, Hordenführer. Dich hätte er mit Furcht erfüllt, und der da hätte ein böses Omen gesehen.« Sie deutete nicht gerade freundlich auf den Schamanen.
»Weshalb glaubst du jetzt, daß es wichtig ist?« fragte Juccru, verärgert über die Ablehnung der Frau.
»Träume, die sich wiederholen, sind nicht nur Träume. Wenn Nottres Traum Spuren hinterlassen hat, könnte auch meiner das getan haben.«
»Vielleicht war der dunkle Schatten, den wir gesehen haben, solch eine Spur«, sagte der Schamane, »und ist verblaßt.«
»Wir werden dafür sorgen, daß es heute nacht keine frischen Spuren gibt«, sagte Urgat zuversichtlich. »Ein Dutzend meiner Krieger werden das Zelt bewachen und…«
»Nein, Urgat. Laß deine Krieger schlafen. Es wird morgen ein anstrengender Weg bis zur Furt. Außerdem würden sie unseren nächtlichen Besucher, wenn er wirklich in einer Gestalt aus Fleisch und Blut kommt, abschrecken, und wir würden vergeblich warten.«
4.
Die Stunden bis Mitternacht vergingen langsam. Eine geraume Weile schlief das Kind friedlich an der Brust seines Vaters, verborgen vom dichten Pelz des Mantels. Mehrere Stammesführer kamen ins Zelt, um über Zwischenfälle während des Tages zu berichten. Aber außer einigen Zusammenstößen mit kleineren Wolfsrudeln und einiger Besorgnis über die Nähe des Lagerplatzes an dem verdammten Wald war nichts, das den Männern auf der Seele lag.
Calutt und die Schamanen, die eines Sinnes mit ihm waren, versuchten erneut mit Nottr zu reden, um ebenfalls auf die neuen Flankengeplänkel mit den Wölfen hinzuweisen, aber Juccrus Anwesenheit ließ sie verstummen. Und Nottres ungehaltene Miene darüber, daß sie mit
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