Aufbruch der Barbaren
Schuhwerk. Sie war in einen grauen Mantel oder Umhang gehüllt. Die vollkommene Hilflosigkeit, in der sie sich befand, erfüllte Nottr mit Mitleid.
Er befreite sich mit einem Ruck aus Urgats klammernden Armen und beugte sich über Olinga.
»Chipaw«, flüsterte er und erschrak, als er ihr Gesicht berührte und erkannte, daß das Haar an ihrem Kopf kein menschliches war, sondern Fell.
Das Fell eines Wolfs!
Und der graue Umhang war kein Kleidungsstück, es war Teil ihres Körpers: Wolfsfell.
Voll Entsetzen ließ er sie los und wich zurück und hätte sie doch am liebsten dennoch in die Arme genommen.
Hilflos sah er, wie der Schamane langsam die Arme senkte und tief atmete.
Es war, als hätte er die Wolfsgestalt losgelassen. Nur seine Augen wichen nicht von ihr.
Der Dämon erhob sich ebenso langsam, als wären noch immer unsichtbare lenkende Bande zwischen ihnen.
Dann wandte sich das bleiche Gesicht Nottr zu.
»Mein Nottr«, sagte es und Sehnsucht und Hilflosigkeit waren in den dunklen Augen, die wölfisch und menschlich zugleich wirkten. »Schütze mich vor ihm…«
Nottres Blick wanderte zu Juccru, dessen Entrücktheit einer Miene des Triumphes gewichen war, und zurück zu der Wolfsgestalt.
»Chipaw«, murmelte er hilflos.
»Bei allen Sturmwölken Imrirrs!« fluchte Urgat hinter ihm. »Geht es nicht in deinen Schädel, daß sie nicht Olinga ist, sondern ein… ein…!«
Er verstummte, als die Gestalt sagte: »Hör nicht auf ihn, mein Nottr. Du weißt, daß ich es bin. Du fühlst es, nicht wahr?«
Es klang flehend.
»Ich habe es schon einmal geglaubt«, erwiderte Nottr und versuchte sich loszureißen von diesem Gesicht. Er ballte die Fäuste. »Sag mir, was du wirklich bist… oder ich kann dich nicht vor ihm schützen.«
Furcht war nun deutlich in ihren blassen Zügen. Sie starrte auf Juccru und zurück zu Nottr.
»Es stimmt alles, was ich dir in den Nächten sagte, mein Nottr. Ich bin es wirklich. Ich sehnte mich so sehr nach dir, sonst hätte ich es nicht gewagt. Es war der einzige Weg. Ich lebe, mein Nottr, das sollst du wissen, wenn ich auch nicht frei bin, wirklich zu dir zu kommen. Vielleicht… eines Tages… Die Kräfte, die uns getrennt haben, sind mächtiger als unsere Liebe, mein Nottr.«
»Aber wenn du nicht wirklich hier bist, wie…?« begann er.
»Meine Gedanken, Nottr. Meine Liebe… dieser treue Freund hat sie dir gebracht…«
»Ein Wolf?« entfuhr es ihm.
»Sie haben auch ihre Magie, Nottr.«
»Eine Magie der Finsternis…«
»Nein, Nottr. Nicht der Finsternis. Hast du vergessen, was ich dir sagte? Wofür sie Ahark brauchen? Für ihren Kampf, Nottr! Gib uns Ahark!«
»Nein!« wehrte der Hordenführer heftig ab.
»Er hat das Mal… das Zeichen des Wolfes…«
»Wir haben es nicht gesehen«, erwiderte Nottr.
Sie sah ihn traurig an. »Wirst du meinen Freund zurückkehren lassen, Nottr? Wirst du Juccru sagen, daß er uns freigibt. Er bringt ein wenig Wärme und Kraft von dir zurück, mein Nottr.«
»Wird er… wirst du wiederkommen?«
»Wenn du mich brauchst, mein Nottr.«
»Werden die Wölfe uns weiter begleiten?«
»Nichts wird sie abhalten, glaube ich…«
»Hast du gar keine Macht über sie?«
»Niemand hat Macht über die Wölfe… außer…«
»Außer?«
»Ahark würde sie haben… glaube ich.«
»Werden sie ihn sich holen, wenn ich mich weigere?«
»Ich weiß es nicht… sie haben ihre Magie… mein Freund ist so schwach, Nottr… er muß gehen… bitte.«
»Laß ihn nicht gehen, Nottr«, warnte Urgat. »Diese Bestie wird das Rudel über uns bringen!«
»Du hast es gehört, Urgat. Er ist nur ein Bote.«
»Der Bote des Feindes, Hordenführer.«
Nottr schüttelte den Kopf.
»Als wir Salor überfielen, haben auch die Ugaliener uns Boten geschickt. Wir haben sie nicht ausreden lassen.« Urgat grinste. »Es gibt nichts zu reden zwischen Feinden.«
»Sie sind keine Feinde«, sagte Nottr, und zu Juccru: »Gib sie frei, Schamane!«
Aber statt dem Befehl zu gehorchen, fragte Juccru: »Wo ist Skoppr?«
»Er lebt wie ich«, erwiderte das Wolfswesen schwach. »Laß uns gehen, bitte…«
»Seid ihr Gefangene der Wölfe?«
»Ich weiß es nicht.«
»Weshalb flieht ihr nicht?«
»Es ist unmöglich… bitte…«
»Laß sie gehen!« befahl Nottr scharf.
»Es sind noch so viele Fragen, Hordenführer«, widersprach der Schamane.
»Laß sie gehen!« wiederholte Nottr heftig.
Juccru schüttelte verwundert den Kopf. »Ich verstehe dich nicht, Hordenführer.
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