Aufbruch der Barbaren
lebendigen Traum. Sein Gesicht war weiß, das war selbst in der Düsternis des rauchigen Zeltes zu erkennen.
»Das war… einer der anderen«, stieß Juccru hervor und wollte auf Urgat einreden, doch Nottr hielt ihn zurück.
»Es war nur der Opistrank.«
Urgat sah den Hordenführer dankbar an. »Ja, es war nur der Trank«, murmelte er.
»Nimm noch ein wenig davon, es wird dich wieder beruhigen«, sagte Juccru hastig und wollte ihm seinen Becher reichen.
»Nein! Ihr braucht beide einen klaren Kopf für das, was ich euch zeigen will. Danach könnt ihr euch betrinken.«
Urgat grinste und entspannte sich, und der Schamane stellte enttäuscht seinen Becher zur Seite.
»Zuerst seht ihr euch den Jungen an«, fuhr Nottr fort. »Srube wird ihn bringen. Und seht ihn euch verdammt genau an…!«
»Wonach suchen wir denn?’ fragte Urgat verwirrt.«
»Nach einem Zeichen«, erwiderte Juccru. »Nach dem Zeichen des Wolfes!«
Alle drei verstummten, als die Amme mit dem Kind eintrat und es zögernd Nottr entgegenhielt.
Nottr bedeutete ihr, es aus den Fellen zu wickeln und den Männern zu zeigen.
Sie gehorchte beunruhigt. Das Kind war still und schläfrig. Aber die raucherfüllte Luft weckte es, und es begann zu schreien. Es wurde krebsrot trotz der kalten Luft, und Tränen kullerten über sein runzliges Gesicht. Die winzigen Finger waren zu Fäustchen geballt.
Die drei Männer starrten auf das kleine nackte Geschöpf. Urgats große Kriegerhände nahmen es der Frau behutsam aus den Armen.
»Er ist ein kräftiger Bursche«, murmelte er. »Seinen Schlachtruf wird man weit hören…« Er grinste und drehte das Kind herum. »Ich sehe kein Zeichen. Nein… da ist kein Zeichen. Wenn da eines ist, so deute du es mir, Schamane.« Er reichte Juccru den Knaben.
Nottr erstarrte, als der Schamane das Kind nahm. Deutlich sah er den dunklen, kreisrunden Schatten über dem Herzen des Knaben. Aber, als wäre alles nur ein Spiel des flackernden Lichtes, der Schamane schüttelte den Kopf. »Du hast recht, Urgat. Ich sehe nichts.« Es klang erleichtert. »Ich sehe nichts, das ich deuten könnte. Es ist nur Leben in ihm…«
»Nur?« sagte Nottr ironisch. Er nahm ihm das Kind aus den Händen.
Er lächelte erleichtert über das Urteil der anderen. Aber er musterte es besorgt. Er war nicht mehr sicher, was den Schatten anbetraf. Es war noch zu früh, ihm das Fell seines Lebenstiers aufzulegen, das dann mit seiner Brust verwachsen würde. Der Schatten, er sah ihn nun wieder, konnte nur Zauber sein. Er blinzelte. Fing er an, Geister zu sehen, wie der Schamane?
»Nun ist es genug«, sagte die Amme.
»Ja«, stimmte Nottr zu. Er öffnete seinen Fellmantel und das Wams an der Brust und schob das Kind hinein, daß es an seiner behaarten Brust zu liegen kam, umgeben von Wärme und der Geborgenheit eines schützenden Körpers. Sein Schreien verstummte. Die winzigen Finger krallten sich in das Haar. Nottr schloß den Mantel vorsichtig.
Die Amme lächelte. Sie ließ sich am Feuer nieder und schürte es. Sie legte neue Zweige auf, die zum Trocknen rundum geschichtet waren. Sie bewunderte den Hordenführer. Sie wußte, was er fürchtete. Sie wußte, wie er seit dem Verschwinden seiner Gefährtin Olinga litt. Sie war eine unkriegerische Natur, wie nur wenige Frauen der Lorvaner. Sie hatte Olinga gemocht, weil diese als Dienerin eines Schamanen auch keine Kriegerin gewesen war, und weil es in diesen wandernden Reiterhorden so wenige gab, die heilten, statt zu kämpfen. Vielleicht war nicht nur lorvanisches Blut in ihren Adern, denn ihre Träume waren wirr für lorvanische Vorstellungen. Manchmal träumte sie davon, wie wundervoll es wäre, nicht mehr durch die Wildländer zu ziehen, sondern Wurzeln fest in der Erde zu haben; in einem festen Haus zu wohnen, wie es die Krieger oft beschrieben, wenn sie von Raubzügen an den Grenzen der Wildländer zurückkehrten. Davon träumte sie, nicht von jenen Tagen, da sie selbst Kriegerin war, bevor ihr eigenes Kind starb und sie sich anderen Kindern des Stammes zu widmen begann.
»Wir werden heute nacht die Wahrheit suchen, Srube«, sagte Nottr. »Wenn es möglich ist«, fügte er hinzu. »Es ist für uns alle wichtig… für mich… für den Jungen… für die Horde. Ich vertraue diesen Männern. Tu du es auch.«
Die Frau nickte stumm.
»Wir sahen letzte nacht den dunklen Flaum über seinem Herzen… wie das Fell eines Jungwolfes. Du hast es auch gesehen, nicht wahr?«
Sie nickte erneut.
»Aber heute hast
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