Aufbruch der Barbaren
Möchtest du nicht deine Gefährtin zurückhaben und Skoppr befreien?«
»Ja, damit er seinen Fluch von der Horde nimmt«, ergänzte Urgat.
»Diese Kreatur ist ganz in meiner Hand, Hordenführer«, sagte Juccru eindringlich. »Ehe diese Nacht um ist, werde ich alle ihre Geheimnisse wissen.«
»Ich befehle es dir nicht noch einmal«, sagte Nottr drohend.
»So gib mir nur einen Augenblick, Hordenführer. Sieh her, ich zeige dir meine Macht… und daß alles nur Täuschung ist, um die Horde zu vernichten…! Sieh her…!«
Seine Arme kamen wieder beschwörend hoch und wiesen auf das Wolfswesen. Sein Gesicht, das vom Eifer seiner Worte erfüllt war, erstarrte wie zu einer Maske.
Im gleichen Augenblick begann das Wolfswesen einen heulenden Schrei auszustoßen, der menschlich und wölfisch zugleich klang.
Nottr sprang über die sich krümmende Wolfsgestalt hinweg und schmetterte den Schamanen mit einem Fausthieb zu Boden. Als er sich umwandte, sah er, daß Urgat seine Streitaxt halb erhoben hatte. Unter Nottrs grimmigem Blick ließ er sie sinken.
Das Wolfswesen hörte auf zu heulen, als der Schamane zu Boden ging. Nottr hatte den flüchtigen Eindruck einer Bewegung am Körper des Wesens. Als es sich gleich darauf ein wenig taumelnd erhob, war Olingas Gesicht verschwunden, ihre Hände und Füße, die menschliche Form unter dem Fell. Vor den Menschen im Zelt stand nur ein grauer Wolf. Er ging zögernd auf Nottr zu, und seine Augen blickten dankbar, soweit solch ein menschlicher Ausdruck bei einem Wolf möglich war. Dann ging er zum Eingang und warf einen langen Blick auf die furchterfüllte Amme und das Kind, bevor er lautlos in der Nacht verschwand.
Zwei, drei Herzschläge lang war Stille, dann schallten aufgeregte Stimmen von draußen herein und zwei Wachtposten stürmten ins Zelt, gefolgt von einem halben Dutzend Kriegern aus den umliegenden Zelten.
»Wir hörten einen Wolf heulen und jemanden schreien…!«
Nottr warf Urgat einen warnenden Blick zu. Dann deutete er auf den bewußtlosen Schamanen und erklärte: »Juccru hat versucht, die Geister der Wölfe anzurufen…«
»Die Geister der Wölfe?« fragten sie und starrten erschrocken auf die reglose Gestalt am Boden.
Hinter den Wachen entdeckte Nottr aus den Augenwinkeln Calutt, deshalb erwiderte er laut, daß alle es hören mußten: »Er wollte sie rufen, daß ich mit ihnen sprechen könnte.«
»Kamen sie?« fragte Calutt mit einer Spur von Mißtrauen.
»Sie kamen, aber es ging über seine Kräfte…«
»Ist er tot?« Calutt drängte sich nach vorn und beugte sich über Juccru. Er lauschte an seinem Herzen, bewegte die Arme und öffnete die Lider. »Nein, er lebt.« Er schien nicht besonders erleichtert darüber zu sein. »Hast du mit ihnen gesprochen?« fragte er Nottr.
»Ich bin kein Schamane«, erwiderte Nottr vorsichtig. »Ich bin Cian’taya. Ich spreche mit den Wölfen, nicht mit ihren Geistern. Bringt mir einen Wolf, und ich werde mit ihm reden. Aber kommt mir nicht mit Geistern!« Er deutete auf Juccru. »Er hat wohl auch nicht viel mit ihnen geredet. Wenn er wieder bei Sinnen ist, könnt ihr ihn ja fragen. Aber jetzt laßt mich schlafen!«
Calutt wies die Wachen an, den bewußtlosen Schamanen in sein Zelt zu tragen. Ais Urgat als letzter der Krieger das Zelt verlassen hatte, sagte die Amme mit zitternder Stimme: »Der Wolf, Hordenführer, er war der Wolf aus meinem Traum. Ich würde ihn unter hundert Dutzenden wiedererkennen…«
Nottr nickte. »Ja, das mag sein. Ich bin sicher, du brauchst keine Angst vor ihm zu haben.«
»Dann war es wohl nicht nur ein Traum…?«
»Nein, ich glaube, es war nicht nur ein Traum.«
»Verstehst du, was sie von deinem Jungen wollen, Hordenführer?«
Nottr schüttelte verneinend den Kopf.
»Wenn sie ihn nun holen kommen?«
»Mit Gewalt, meinst du?«
Sie nickte heftig.
»Das hätten sie längst tun können«, widersprach er. »Aber wir werden wachsam sein. Laß ihn nicht aus den Augen, in den nächsten Tagen. Und wenn du etwas siehst, das aussehen könnte wie…«
»Das Zeichen des Wolfes?«
Er nickte grimmig. »Aber niemand außer mir soll es erfahren. All diese Schwarzseher sollen keine Gelegenheit bekommen, ein Dutzend düsterer Omen auf die Große Horde herabzubeschwören!«
5.
Der Morgen brachte keinen Schnee, doch einen düsteren, wolkenverhangenen Wintertag.
Nottr hatte kaum ein Auge zugetan während des kurzen Restes der Nacht. Olingas Botschaft, und er zweifelte nicht daran, daß sie
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