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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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»Sachlage«, wie es hieß, reduzieren? Waren es vier Millionen oder doch »nur« dreieinhalb? Wie viele wurden durch Phenol, wie viele durch Gas getötet? Erschlug man die Gefangenen auch mit der Schaufel? Wie viele konnte man aufhängen, ehe der Galgen zu Bruch ging? Dass das Unmenschliche menschlich ist, ich konnte es nicht begreifen. Dass es Menschen waren und keine Bestien. Noch im Vergleich mit einer Bestie ist die Entschuldung angelegt: Wilde Tiere können nicht anders, der Mensch aber doch. Das Entsetzen war allgemein. Ungeteilt. Geteilt waren die Reaktionen darauf.
    »Suum cuique«, schrieb Sellmer an die Tafel. Jedem das Seine. Kannte doch jeder. »Jedem dat Seine, un mir en bissjen mehr!«, schnaufte der Onkel aus Ruppersteg, wenn er sich nach dem Essen den Hosenbund aufknöpfte und den Zigarrenschneider betätigte. Das aber wollte der Lehrer sicher nicht hören, als er fragte, ob und wo wir den Spruch, lateinisch oder deutsch, schon einmal gehört hätten, wartete auch unsere Antworten gar nicht erst ab, holte vielmehr weit aus, bis zu den Griechen.
Auf Platon, der die Worte Sokrates in den Mund gelegt habe, gehe der Grundsatz zurück. Jeder solle das Seine für Gemeinschaft und Staat tun, wie es seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten entspreche; alsdann solle er das Seine bekommen, und niemandem solle das Seine genommen werden. Bei Cicero, so Sellmer, nehme der Gedanke dann schon konkreten politischen und rechtlichen Inhalt an. Zum Schlagwort aber habe 534 nach Christus Kaiser Justinian I. die beiden Wörtchen gemacht, als Grundlage seines Corpus Iuris Civilis . Fünfundfünfzig Bände umfasse dieses erste zivile Gesetzbuch der Welt, das die bürgerliche Gesetzgebung bis heute beeinflusse. »Ganz zu Beginn heißt es«, Sellmer griff zur Kreide, »Iuris praecepta sunt haec: Honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere. Heißt? Nikolaus Opulentus!«
    Und Clas Reich übersetzte: »Die Vorschriften des Rechts sind diese: Ehrenhaft leben, den anderen nicht lädieren, äh, beschädigen, nein: verletzen, jedem das Seine zuteilen oder gewähren.«
    »Bene dictum!«, lobte Sellmer. »Die Gebote des Rechts sind diese: ehrenhaft leben, den anderen nicht verletzen, jedem das Seine gewähren. Wobei alterum meint: einer von zweien, also immer mich und den anderen. Fast schon ein Verweis auf den Kant’schen Imperativ, der da lautet? Pius!«
    Mehrere Formulierungen dieses Imperativs gebe es, erwiderte der angehende Theologe prompt, dann in einem Ton, als verläse er von der Kanzel, tat er kund, dass das eigene Handeln stets ein Vorbild für alle sein solle.
    Astrid, die, kaum dass sie die Worte an der Tafel gelesen hatte, unruhig hin und her gerutscht war, hielt es nicht mehr auf ihrem Stuhl. »Buchenwald!«, rief sie, sprang auf, setzte sich wieder. Bleich, mit zusammengebissenen Zähnen.
    Schweigend nahm Sellmer noch einmal die Kreide. »JEDEM DAS SEINE«, schrieb er, griff zum Lineal, zog einen Strich über, einen unter die Lettern, zog zwei Längsstriche rechts und links der Zeile und weiter nach unten, teilte das Rechteck
noch einmal mit zwei Längsstrichen, zog durch die Längsstriche Schrägstriche, ein Gitter entstand, Rhombe um Rhombe. Kreide scharrte auf Schiefer, leise klappte das Lineal auf die Tafel, wurde sachte verrückt, ein Schrägstrich und noch einer, an der Tafel ließ sich das Grauen nieder, Sellmer zog die Schultern hoch, als fröre ihn. Wie frostbefallen saßen wir da vor der Zeichnung des Lateinlehrers Dr. Johannes Sellmer, und ich musste die Augen abwenden von diesen dürren Linien, dem harmlosen Gitterwerk, dahinter Qualen, Leiden, Schmerz, der Tod, hin zum Fenster, wo der Regen rieselte, Trost rieselte, du sollst ja nicht weinen, wie eine Musik.
    »Buchenwald!« Sellmer stellte das Lineal lauter als nötig in die Ecke, brachte uns aus der Erstarrung zurück in die Klasse. »So ungefähr sah es aus, das Tor zum KZ. Das Mittelstück. Der Kommunist Ernst Thälmann, der Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid, der evangelische Pfarrer Paul Schneider, der katholische Priester Otto Neururer, mehr als zweihunderttausend Menschen wurden hinter dieses Tor verschleppt.« Sellmer räusperte sich und sprach mit gewohnter Lehrerstimme weiter: »Nun wissen Sie, woran Sie sind, wenn Ihnen dieses Motto in Zeitung und Fernsehen begegnet. Perverse Nazidemagogie. Auch Worte können verhöhnt und gedemütigt werden wie Menschen.«
    Damit entließ er uns in die Pause, die wir ungewöhnlich wortkarg

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