Aufbruch - Roman
verbrachten. Still, die Köpfe über Bücher und Hefte gesenkt, fand uns in der nächsten Stunde Mathematicus Meyer, der wie gewöhnlich die Tasche aufs Pult polterte und schon im Gruß die Hand nach der Kreide ausstreckte. Ein Blick auf die Tafel, Meyer schrak zurück, die Hand um das Kreidestück gekrampft.
»Wer war das?«, stieß er hervor, tonlos, sein rosiges Gesicht ins Purpurne verfärbt. Und noch einmal: »Wer war das?« Mit fester Stimme jetzt. Drohte er uns?
Clas stand auf und fast gleichzeitig mit ihm Rolf Armbruster; Anke stand auf und Monika; Astrid und ich; Alois und der schöne Armin; alle standen auf, ein einziger Aufstand.
»Setzen!« Meyer griff zum Schwamm, eigenhändig, was noch nie vorgekommen war, Tafelputzen bei Meyer war eine Ehre, die er nur den Besten zukommen ließ. Eigenhändig zum Schwamm griff Meyer, tauchte ihn eigenhändig in den Eimer, den der Hausmeister jeden Morgen frischgefüllt bereitstellte, und wischte Suum cuique und Jedem das Seine, wischte Linien längs und quer und X mal X aus der Welt der Schiefertafel in der Baracke des Wilhelm-von-Humboldt-Gymnasiums. »Dafür haben wir nicht jahrelang draußen geblutet, dass man uns jetzt in der Heimat nach Jahr und Tag hiermit verfolgt. Wir haben genug gelitten. Schluss!«
An diesem Tag rührte Meyer die verdorbene Kreide nicht mehr an und rief auch keinen an die Tafel, als lauerte unterm Schiefer die Vergangenheit, bereit, bei jeder Berührung heraufzubrennen. Diktierte vielmehr mal in mürrischer Langsamkeit, mal in rasendem Tempo eine Aufgabe nach der anderen, wobei es ihm kaum etwas auszumachen schien, ob wir folgen konnten, Hauptsache, wir kamen nicht zum Nachdenken.
Nicht nur der Mathematiklehrer hatte von dieser Vergangenheit genug.
»Wat solle de Lück denke«, empörte sich Tante Berta, die Lück da draußen! Sie war vor wenigen Wochen von einer Busfahrt nach Holland zurückgekommen. »Blütentraum«, hatte die Reise geheißen, und die Tante war von einigen Dondorfern mit dem Kauf exotischer Zwiebeln beauftragt worden. »Mer woren kaum us däm Bus raus«, so die Tante mit bebender Stimme, da seien zwei Kinder, zwei Rotznasen, auf ihren Fahrrädern vorbeigeschossen und hätten gebrüllt: »Nazis eruit!«, und die Fäuste gegen sie geschüttelt. Das aber war erst der Anfang. Die Blumenschau hätten sie ja gebucht, da mussten sie uns reinlassen, so die Tante. Aber kein freundliches Wort, kein nettes Gesicht.
»Nit ens, wie isch für fuffzisch Mark Zwibbele kaufen wollt!« Für fünfzig Mark Tulpenzwiebeln, für Nachbarschaft und Familie, und kein einziges holländisches Lächeln. »Taten so, als hätt
isch die Pest. Isch widder raus. Im nächsten Laden: jenau datselbe. Ävver beim dritte Mal, da hab isch dä Schein sofort aus dem Pottmannee jenomme un so nebenbei jezeischt, da han se die verkauft. Jeld rejiert die Welt!«
Dann sei Kaffeezeit gewesen. Auch vorbestellt. Und den Kaffee habe man auch bekommen. »Ävver wat für eine! Da konnte mir die Blöömsche wachsen sehen, so dünn.« Und der Kuchen habe so komisch geschmeckt, angeblich Käsekuchen, extra für die deutsche Gruppe gebacken. Aber gegessen und getrunken habe man alles bis auf den letzten Tropfen und Krümel, war ja schließlich bezahlt. Vor der Weiterfahrt musste man dann noch aufs Klo. Aber da hing vor der abgeschlossenen Tür ein Schild »kaputt«, bei »dames« und »heren«. Und die Wirtin - »Mir hatten ja leider schon im Voraus bezahlt!« -, fauchte die Tante, habe boshaft grinsend danebengestanden. »Mir also raus«, so die Tante, »un in dä Bus un in dat nächste Lokal.« Da aber habe sich die Wirtin, so »en Maschin« - mit aufgeregten Armschwüngen verdoppelte und verdreifachte die Tante ihre eigene Leibesfülle -, die Wirtin also habe sich in die Tür gestellt und gesagt: »Alles bezet hier.« Kein Platz für Deutsche. Ja, habe sie, die Tante gesagt, »mir sind Deutsche, aber aus Dondorf. Nix Auschwitz. Nix Nazis.« Aber da habe ihr die Frau die Tür vor der Nase zugeschlagen. Dabei sei da drin jede Menge Platz gewesen. So gut wie leer. »Un do lässt die sisch so en jutes Jeschäft entjehen!« Auch in einem zweiten Lokal wurden die Dondorfer Tulpenpilger abgewiesen: Der Kaffee sei alle. Am liebsten, so die Tante, hätte sie denen die Zwiebeln vor die Füße geschmissen, aber die waren ja schon bezahlt. Also alle wieder ab in den Bus und Richtung Heimat. Bis sie an ein paar Büsche kamen. »Nit ens Wald han die do«, schnaubte die Tante,
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