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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Argumentationskette passt, die eigene Meinung unterstreicht. Und das ist nicht nur bei einem Text so. Auch im Leben. Auch in der Geschichte. Da kann man auch nicht einfach weglassen, was nicht in das eigene Bild passt. Oder so zurechtstutzen, bis es passt. Es ist richtig: Ich hab die Wörter genau so stehen lassen, wie sie gedruckt waren, Reihenfolge nicht verändert, nur ein paar Wörter weggelassen dazwischen und die Sätze drumherum. Da hatte ich, was meine Meinung unterstreicht.«
    »So wie die Deutschen!«, fuhr Rolf dazwischen.
    Verständnisloses Gemurmel der Klasse.
    Rebmann räusperte sich. »Soll heißen?« Er sah mich an.
    Aber Armbruster war schneller: »Soll heißen«, erklärte er leidenschaftlich, »dass die Deutschen sich aus ihrer Vergangenheit genau das rauspicken, was ihnen in den Kram passt.«
    Rebmann räusperte sich wieder, unterbrach ihn aber nicht.
    »Fast zwanzig Jahre weiße Weste«, eiferte Rolf, »Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Was sonst noch war, will keiner sehen. Gut, dass das jetzt immer weiter ans Licht kommt. Was spielt da ein Zitat für eine Rolle? Wenn die Fakten stimmen!«
    Rebmann winkte ab. Je komplexer ein Ding, ein Ereignis, desto mehr Blicke waren nötig, um es zu erfassen. Augen, die immer wieder zum Hinsehen gezwungen werden mussten.
    Da war dieser fette Mittfünfziger, dieser Kaduk. Brutales Gesicht, unsteter Blick, ich hätte nicht in einem Zugabteil mit ihm sitzen mögen. Mit Frau und Kind wohnte er in einem Einfamilienhaus direkt neben dem Lager. So ein guter Familienvater sei er gewesen, sagte seine Frau, und wenn die Schornsteine qualmten, habe sie geglaubt, es werde Brot gebacken, es seien ja so viele gewesen, in den Baracken. Die hätten doch alle versorgt werden müssen. In den vergangenen Jahrzehnten, jammerte der gelernte Metzger, habe er doch gezeigt, er wolle
nur in Frieden leben, sei als Krankenpfleger beliebt gewesen bei seinen Patienten. »Papa Kaduk«, hätten sie ihn genannt. »›Papa Kaduk!‹ Das sagt doch alles! Ich bin schon ganz fertig! Ich kann das nicht länger ertragen!«, winselte der Angeklagte. Kollegen von der Krankenstation sagten für den »netten Kollegen« aus. Seine Opfer hingegen beschrieben diesen »Papa Kaduk« als »Schrecken von Auschwitz«, ständig betrunken, ein Sadist, der wahllos Häftlinge zusammenprügelte oder erschoss. Oder dieser Mulka: »Seit vier Jahren bin ich herzkrank«, soll er gesagt haben. »Bisher ging ich stets ehrlich durchs Leben. Aber jetzt sollen mir durch solche Schweinereien noch die letzten Tage versaut werden«, so der Kaufmann aus Hamburg, der als Lageradjutant das Zyklon B von Dessau nach Auschwitz transportiert hatte, nichtsahnend, versteht sich.
    Von Bösartigkeit könne doch keine Rede sein, führte der Verteidiger des Karosserieschreiners Klehr an, der als Sanitäter über fünfhundert Menschen mit Phenol zu Tode gespritzt hatte. Sein Mandant habe doch den Schemel mit dem eigenen Fuß weggestoßen, damit der Häftling den Erstickungstod nicht langsam durch Erdrosseln sterben musste, sondern schnell und schmerzlos, human also. Auch er mit einer lieben Frau und lieben Kindern vor Ort, ganz so, wie der Buchhalter Boger.
    Das alles ist geschehen, musste ich mir immer wieder sagen, wenn mir die Szenen aus dem Frankfurter Bürgerhaus Gallus vorkommen wollten wie Ausschnitte aus einem albtraumhaften Theaterstück; Bühne und Tribüne mit Angeklagten und Richtern, Verteidigern und Staatsanwälten, Zeugen, Zuhörern, Presseleuten. Dazu fortwährend dieser ungeheuerliche Text, den kein Regisseur unterbrechen würde, »Aufhören!«, rufen würde, damit das Ganze sich auflösen könnte wie ein Spuk.
    Morgens an der Bushaltestelle hing die Bildzeitung vorm Kiosk: »Frauen lebend ins Feuer getrieben«, »Hähnchen und Vanilleeis für die Henker«, »In den Gaskammern schrien die Opfer fast 15 Minuten lang«, »Die Folterschaukel von Auschwitz«, »Wie die Raubtiere«. Die Verbrecher: Stars aus der Hölle.

    Dass ich etwas mit diesen Unmenschen zu tun haben könnte, ich oder meine Familie, dass ich mich schämen müsste für diese Unmenschen, weil sie Deutsche waren wie wir, wollte mir nicht in den Kopf . Musste man sich denn nicht nur dann schämen, wenn man etwas verschuldet hatte? War ich schuld an diesen Greueln, an den Verbrechen der Nazis?
    »Stellen Sie sich vor«, suchte Rebmann zu erklären, »Sie hätten einen Verbrecher, einen Mörder in der Familie, einen Mörder und Betrüger. Muss dann nicht die

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