Aufbruch - Roman
murks isch dem Rudi de Schildkröt aff un dem Maria dat Vöjelschen, un dann ab en de Heia, un dat es dann Kunst! Nä! Maria, häs de ne Melissenjeist für misch?«
Wer wollte, konnte lernen. »Hätten Sie’s gewusst?«, fragte Heinz Maegerlein; Spielfilm, Geschichte, Malerei, Sagen der Völker, Tierleben. Der Vater ließ keine Sendung aus. Und Grzimek. Sobald der von der Hörzu als »bester TV-Hauslehrer« gelobte Zoologe sein Publikum mit »Guten Abend, meine Freunde« begrüßt hatte, wobei ein Schimpanse die Zähne in die Kamera fletschte, war es gefährlich, den Vater zu stören. Ein Platz für Tiere von Bernhard Grzimek oder die Filme von Heinz Sielmann: Die Frage, wer der Bessere sei, spaltete die Nation bis in die Verwandtschaft. Der Vater zog den trockenen, professoralen Ton Grzimeks vor, der weniger die Abenteuerlust, denn den Wissensdurst der Zuschauer befriedigte. Mutter und Tante machten sich aus beiden Sendungen nichts, und der Großmutter war die Verbrüderung des Menschen mit den tierischen Verwandten sogar suspekt. Sie ahnte, dass hier ihrem Glauben an die Erschaffung Adams aus Lehm und Gottesatem auf subtile Weise widersprochen wurde. Doch auch sie kam auf ihre Kosten und feierte jede Messe aus den schönsten Kirchen Deutschlands mit. Wer wollte, konnte dabei sein, mit eigenen Augen.
Jack Ruby erschoss vor unseren eigenen Augen Lee Harvey Oswald, den Mörder Kennedys; wir marschierten mit Martin Luther King auf Washington, hörten seine Stimme: »I have a dream.« Ende Oktober warteten Mutter und Großmutter zwei
Wochen lang auf Neuigkeiten vom Grubenunglück in Lengede; ließen den Fernseher auch tagsüber laufen, schalteten immer wieder von ARD zu ZDF, das seit April dazugekommen war, und liefen aufgeregt zwischen Fernseher und Küche hin und her, wenn das Bild »Wir schalten um. Bitte haben Sie Geduld« nicht verschwinden wollte, was manchmal eine halbe Stunde dauern konnte.
Der 1. FC Köln, Tabellenführer und Vorjahresmeister, verpatzte die Meisterschaft; Konrad Adenauer, erster Kanzler der Bundesrepublik, dankte nach vierzehn Amtsjahren ab. Für anderthalb Millionen West-Berliner öffnete sich zum ersten Mal die Mauer. Wir waren dabei.
Und wir waren dabei, als in Frankfurt der größte Schwurgerichtsprozess nach dem Krieg eröffnet wurde. Zweiundzwanzig Männer saßen auf der Anklagebank. Männer, die sich auf dem Bildschirm in nichts von den Anklägern, Staatsanwälten, dem Richter unterschieden. Bessere Herren saßen da, gutsituiert, in Schlips und Kragen. Anständige Berufe. Exportkaufmann, Apotheker, Diplomingenieur, Krankenpfleger. Höhere Angestellte. »Angekommen im Wirtschaftswunder«, kommentierte der Sprecher. Spießbürger mit Gamsbart und Melone. Schon Goethes Faust wusste: Der Teufel weiß sich zu tarnen als Jäger mit rotem Wams und Hahnenfeder am grünen Hut. Ist kinderlieb, der Teufel, wie Höß, der die Jungen und Mädchen, die er mit Phenol zu Tode spritzte, »ganz allerliebst« fand. Und so brav und tapfer, nicht eines von ihnen habe um sein Leben gebettelt. Lässt es sich schmecken, der Teufel, so wie Regierungskriminalrat Ewald Peters. Hatte noch eine Woche, bevor er unter dem Verdacht des Massenmords verhaftet wurde, mit dem Bundeskanzler in Rom getafelt. Und sich nach knapp einer Woche U-Haft dort erhängt. Feige ist der Teufel, so, wie Richard Baer, der sich bei seiner Verhaftung in die Hose machte. Und frech, so, wie der Hamburger Kaufmann Robert Mulka, der den Staatsanwalt Kügler wegen Beleidigung anzeigte, weil
der ihn, den SS-Mann, einen »Angehörigen eines uniformierten Mordkommandos« nannte.
Zwei Jahre hatten die Staatsanwälte Joachim Kügler und Georg Friedrich Vogel mit der Spurensuche zugebracht; beauftragt vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer; ihm hatte man die Dokumente mit Namenslisten von SS-Funktionären zugespielt. Eintausenddreihundert Zeugen wurden vernommen. Achtzig Aktenordner, siebentausend Seiten: die Anklageschrift.
Wer sich informieren wollte, konnte das tun. Vom Wohnzimmersessel aus. Bleiben die Mörder unter uns? fragte eine Dokumentation in Anlehnung an Wolfgang Staudtes Spielfilm aus der Nachkriegszeit Die Mörder sind unter uns . Fritz Bauer diskutierte mit Studenten über die Verjährung von NS-Verbrechen, schilderte die Entstehung des Auschwitz-Prozesses. Tagesschau , Panorama , Report hielten uns auf dem Laufenden.
Fassungslos saß ich vor dem Fernseher. Wie konnte man das Grauen, das Unvorstellbare, auf die
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