Aufbruch - Roman
unter freiem Himmel habe man sich hinhocken müssen in der Kälte, su en Schand! Und zu Haus sei es dann erst richtig losgegangen. »Die hatte us jet en dä Kooche jedonn! Zwei Daach lang bin isch jeloofe! Ävver Tulpe, nä, die kumme mer nit mehr in et Haus.« Letztes Jahr sei doch noch alles ganz friedlich gewesen bei den
holländischen Nachbarn. »Isch hab mit dä Verbrescher doch jenauso wenisch mit zu tun wie die Kääsköpp. Wat soll dat janze Jedöns nach all dene Johr?«
Die Frage der Tante echote durch Fernsehen, Radio, die Zeitungen bis in die Klassenarbeit der Unterprima des Humboldt-Gymnasiums.
»Ist es richtig, dass die Deutschen all diese furchtbaren Dinge selbst vor die Öffentlichkeit bringen?«, diktierte Rebmann. Wie immer zielte diese Frage auf den logischen Dreischritt. Nein, es ist falsch, lautete meine These, und ich stellte am Beispiel der Tante die verheerenden Folgen dar. Ließ den Begriff der »Nestbeschmutzung« fallen, der Selbstgeißelung. Malte das Gesicht des hässlichen Deutschen. Und behauptete dann das Gegenteil. Ja, sagte ich, es ist richtig. Richtig, weil man im Ausland nicht vergessen hat, was sich unter SS und Gestapo abgespielt hat. Weil es draußen einen guten Eindruck macht, wenn es die Deutschen selbst sind, die sagen, was war, und heute das Recht wiederherstellen.
Das aber sei nicht das Wichtigste. Wichtiger, als in den Augen der Welt gut dazustehen, sei es, den Teufel beim Namen zu nennen. »Den Teufel kann nur austreiben, wer ihn beim Namen nennt«, schmetterte ich aufs Papier. Die Wahrheit muss ans Licht, egal, wie bitter!
»Wozu sind Worte da?«, hatte Rosenbaum gefragt: »Wörter und Dinge zusammenzubringen, darum geht es. Das ist Wahrheit. Die Vertreibung aus dem Paradies hat Sachen und Namen voneinander getrennt. Wir müssen sie wieder zusammenfügen. Um die Wahrheit geht es im Leben. In jedem kleinen Leben. An jedem Tag. Nur dann kann das Wort etwas ausrichten.«
Immer wieder war im Fernsehen das Eingangstor zum Vernichtungslager zu sehen. In schmiedeeisernem Schwung der zynische Spruch: »Arbeit macht frei.«
Ich musste eine Weile suchen, bis ich ihn wiederfand, den Satz aus dem achten Kapitel des Johannesevangeliums: »›Ihr … werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch
freimachen.‹ Hierzu gibt es keine Alternative.« Das war mein Schlusssatz.
»Synthese fehlt«, war dann auch die erste Bemerkung Rebmanns. Sodann: »Zitat fragwürdig. Absicht nicht. Aber: Heiligt der Zweck die Mittel? Zitat mutwillig zurechtgebogen. Kerngedanke akzeptabel.«
Doch ließ er es dabei nicht bewenden. Vielmehr diktierte er der Klasse meine Zitatversion, in einer Zeitung habe er dies gefunden, und im Anschluss daran die Bibelstelle: »Da sagte Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: Wenn ihr bei dem bleibt, was ich euch gesagt habe, seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen. Da sagten sie zu ihm: Wir sind nie jemands Knecht gewesen. Wie kannst du denn sagen: Ihr sollt frei werden? Jesus antwortete ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht bleibt nicht für immer im Haus; der Sohn aber bleibt ewig. Wenn euch nun der Sohn freimacht, so seid ihr wirklich frei.«
»Ist es zulässig«, Rebmann legte die Rechte auf die Bibel wie zum Schwur, »mit einem Text so zu verfahren, wie der Verfasser?«
Die Mehrzahl meiner Klassenkameraden konnte in dem lockeren Umgang mit Gottes Wort nichts Böses erkennen. Nur Alois, der Pastor in spe, rebellierte gegen die Säkularisierung, schließlich sei Jesus die Wahrheit, und im Glauben an ihn, nicht in einem Gerichtsverfahren liege die Freiheit.
»Jeder Mensch ist ein Kind Gottes. Richtig? Gott ist die Wahrheit. Richtig? Also sind auch alle Menschen ein Teil dieser Wahrheit«, suchte Rolf aus reiner Lust am Widerspruch den frommen Mitschüler in die Enge zu treiben.
Alois gab sich geschlagen. Rebmann bohrte weiter.
»Alles richtig«, sagte er und zupfte sich die Nase. »Zielt aber etwas an meiner Frage vorbei.« Rebmann sah mich durchdringend an, und plötzlich wusste ich, worauf er hinauswollte.
»Nein«, gab ich zu. »Es ist nicht zulässig, einen Text so umzubiegen, dass er einem in den Kram passt.«
Rebmann unterbrach mich: »Was ist das für ein Deutsch: in den Kram passt!«
Aber ich ließ mich nicht mehr aus dem Konzept bringen: »In den Kram passt«, wiederholte ich, »also, dass er in die
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