Aufbruch - Roman
Teller. »Sie essen ja gar nicht, Fräulein Palm.«
»Verloren«, sagte ich. Zog mit den Lippen langsam ein Kuchenstück von der Gabel in den Mund, vor meinen Augen im Fernsehen die verschleierte Frau, ganz nah, die Kinder an der Hand.
»Na also, es schmeckt doch! Ach, nun sehen Sie mal, die beiden Kleinen mit ihrer Mahmaah, wie süß.«
»Verloren?«, echote der Schulzahnarzt. »Ich weiß doch, was so eine Zahnspange kostet. So etwas verliert man nicht!«
»Verloren«, bestätigte ich und grinste den Mann mit vorgeschobenem Unterkiefer an.
»Verloren!« Der Schulzahnarzt holte Luft.
»Mach mal lauter, Dirk«, rief die Mutter, »die Trommeln, nein, so was Trauriges. Und die schönen Pferde!« Sechs Schimmel zogen die Lafette, sechs Schimmel, nur auf einer Seite beritten. Frau Anklamm nahm einen Schluck Kaffee, »verloren«, sagte ich, und jenseits des Atlantiks stampfte ein Pferd in Großaufnahme, setzte der Trauerzug sich in Bewegung. Trommelwirbel, düster, dumpf, unerbittlich, hinter der Lafette verlorenes Hufeklappern, ein Pferd ohne Reiter, am Sattel ein Säbel, in den Steigbügeln leere Stiefel. »Black
Jack«, sagte der Sprecher, Symbol für einen Soldaten, der alle Schlachten hinter sich hat. Die Trommeln wurden lauter, der Sprecher schwieg.
»Verloren«, wiederholte der Zahnarzt. »Dirk, mach den Ton bitte leiser. Wie kann man so etwas verlieren! Das kostet doch Hunderte …«
»Neunhundert«, bekräftigte ich mit verzweifeltem Trotz.
»Neunhundert deutsche Mark!« Herr Anklamm blies die Backen auf und ließ die Luft geräuschvoll entweichen. Dann, unter anschwellendem Trommelschlag: »Leichtsinniges Ding!«
Dirk fuhr dazwischen: »Da wird ein Staatsmann zu Grabe getragen. Und du redest über Zahnspangen.«
»Dann schalte das Ding ab! Sofort! Was gehen uns die Amerikaner an!«
»Aber Sie essen ja gar nichts, Fräulein Palm, schmeckt es Ihnen nicht bei uns?« Frau Anklamms Stimme erinnerte an kalten Haferschleim.
Niemand hielt mich zurück, als ich behauptete, nach Hause zu müssen. Der Schulzahnarzt wies noch einmal auf die bösen Folgen meines Leichtsinns hin, dann schlug die Tür hinter mir zu, wie man ein Buch zuschlägt nach einem Kapitel, das einen zu sehr bedrängt hat.
Dirk folgte mir. »So ist er«, druckste er. »Über Zähne lässt er nicht mit sich spaßen. Warum schaffst du dir denn keine neue Spange an? Schöne Zähne: Das ist doch was fürs Leben.«
In den kahlen Vorgärten lag nebelschwere Luft. Die Straße übersät mit nassem Laub und abgestorbenen Zweigen. Aus einem der Bungalows klang gedämpft ein Klavier. » Die Stumme von Portici «, brachte Dirk die Töne auf Linie, »die Ouvertüre. Von Auber.« Ein kleines Männchen führte seinen Dackel spazieren. Noch ehe wir eingestiegen waren, hatte der Nebel die beiden verschluckt.
»Seltsam, im Nebel zu wandern«, sagte ich leise vor mich hin. Dirk ließ den Motor aufheulen.
»Ja«, sagte er. »Gut, dass wir nicht laufen müssen.«
Ich drehte die Heizung voll auf. Deutsche Gedichte hatte Dirks Gedächtnisspeicher nicht vorrätig.
Zu Hause hing der Duft von Gewitterkräutern in der Küche. Der Vater, die Mutter, die Großmutter, der Bruder hatten gemeinsam mit Julchen und Klärchen die Beisetzung Kennedys gesehen. Die Großmutter und die Nachbarinnen, erzählte Bertram abends im Bett, hätten den schmerzensreichen Rosenkranz gebetet, leise, nachdem der Vater: »Halt de Muul!«, geschrien und den Ton unerträglich laut gedreht habe. Die Großmutter habe geweihte Kräuter verbrannt und die Mutter eine Kerze auf dem Fernseher angemacht. Sehr zufrieden habe die Großmutter vermerkt, dass auch zwei getaufte schwarze Heidenkinder in Uniform den Sarg getragen hätten. »Schließlich war dä Kennedy jo kattolisch.«
Bertrams Frage nach meinem Besuch bei Anklamms wich ich aus: zu müde. Mein Verehrer hatte zwar Name und Adresse, mein Retter war er nicht. Und wozu auch?
Nachts verstrickten mich wirre Bilder in einen unruhigen Schlaf. Das Pferd mit Sattel und Säbel, den leeren Stiefeln, Tortenheber kreisend überm Gebäck unter den Trommelwirbeln des Trauerzugs, meine Zahnspange in der Faust des Vaters, der doch mein Pappa war, trotz allem. Und kein Pahpaah.
Bald nach diesem Besuch gab ich Dirk Anklamm den Laufpass, trat den Vorhaltungen Monikas mit der Darstellung dramatischer Gewissenskämpfe zwischen der Treue zum fernen Geliebten und dem nahen Bewerber entgegen. Malte ihr schlaflose Nächte, Albträume, Herzkrämpfe aus,
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