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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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bis schließlich sie es war, die meinem Verehrer giftige Blicke zuwarf, wenn der sich mir näherte. Ich blieb meinem Finnen treu. Meinem geliebten finnischen Hirngespinst. Mein Doppelleben auf dem Papier weit weniger
anstrengend als die Wirklichkeit. So viel befriedigender, etwas Schönes an die Stelle zu schreiben, wo nichts war, als Geschehenes zu beschönigen. Etwas Schönes zu reden, als etwas schönzureden. Einem fernen Papieringenieur hielt ich die Treue, das sprach sich herum, und je mehr davon sprachen, desto wahrer wurde die Geschichte, desto güldener glühte mein Heiligenschein. Sogar Melzer, der Philosophielehrer, schien die zynische Herablassung, mit der er uns behandelte, mir gegenüber einen Hauch zurückzunehmen. Es gab sie also doch, die reine, selbstlose Liebe. Auch wenn er, darin der Mutter nicht unähnlich, wohl orakelte: Das dicke Ende kommt noch. Da durfte er lange warten. Ich hatte mein Liebesleben in der Hand.
    Monika konnte zwar wie alle anderen nicht umhin, meine Treue zu dem fernen Geliebten zu bewundern, doch weit lieber hätte sie mich Arm in Arm mit einem ganz normalen Primaner aus Fleisch und Blut gesehen. Wäre ich wenigstens einmal mit ihr auf eine der Feten gegangen! Doch wenn Clas zum Geburtstag den neuausgebauten Partykeller einweihte, und alle fuhren hin, fuhr ich mit dem Fahrrad ums Dorf. »I want to hold your hand«, sangen die Beatles, und ich umklammerte den Lenker fester, trat in die Pedale, als gälte es noch einmal, Sigismund nicht zu verpassen, am Notstein, dem Möhnebusch, am Rhein. »Rote Lippen soll man küssen«, befahl Cliff Richard, und ich rieb die meinen gegeneinander. Bis zum Abitur weder Händchen noch Lippen noch Mond und Sterne. Bis zum Abitur nichts als lernen, wissen, abwarten. In aller Ruhe.
     
    Zu Hause lebte ich wie ein entfernter Verwandter mit Familienanschluss; gemeinsame Sonntagsessen und Kirchenbesuche an Feiertagen. An runden Geburtstagen, gelegentlich auch an Namenstagen von Verwandten, fuhr man nach Großenfeld, Strauberg, Ploons, vor allem aber nach Rüpprich, wo es bei den Tanten und dem falschen Großvater noch immer etwas zu holen gab. Essen, Messe, Besuche hielten die Familie zusammen. Und das Fernsehen. Das vor allem. Wenn in Kristall oder im Echo
der Zeit geklagt wurde, Fernsehen ruiniere das Familienleben, zerstöre Gespräche und Geselligkeit, konnte ich nur den Kopf schütteln. In der Altstraße 2 verlief das umgekehrt. Wann zuvor - vor dem Einzug des Fernsehers - hatte ich jemals abends um acht mit der Familie zusammengesessen?
    Sogar die Mutter versäumte die Tagesschau nicht. Nirgends sonst wurde ihre Lust an der Katastrophe so zuverlässig bedient, Desaster weltweit, täglich frisch, da kam kein Dorfklatsch mit. Die Flutkatastrophe in Hamburg: Tagelang hatte sie mit dem Frauenverein Spenden für die Opfer gesammelt. Vera Brühne lebenslänglich: für die Frauen im Dorf wochenlanger Genuss; abgelöst erst durch die Scheidung vom Schmitze Billa vun singem Tünn nach drissisch Johr. Für Peter Fechter, den DDR-Grenzer bei einem Fluchtversuch an der Mauer verbluten ließen, bestellte die Großmutter eine Seelenmesse. Und Marilyn Monroes Selbstmord mit Alkohol und Tabletten bestätigte der Mutter wieder einmal: »Dat dicke Äng kütt noch.«
    Die Grenzen des Dorfes verschoben sich, dehnten sich bis an den Horizont der Grundig-Fernsehtruhe. Schrumpfte die Welt auf Dondorfer Maß? Oder wurden aus Dorfbewohnern auf Knopfdruck Weltbürger? Et kütt drop an, hätte der Großvater gesagt.
    Statt »Stell dir dat emal vor« hörte man nun immer öfter »Has de dat jesinn?«, und das meinte nicht länger nur Neues aus Dondorf.
    Außer sich stürzte die Tante eines Sonntagmorgens noch vor dem Hochamt herein. »Dä Doll hätt acht Stund op dr Ääd jeläje. Am Kopp und am Foßäng ene duude Has! Un von hinge han de Hippe jemeckert! 37 Un dafür bezahle de Lück och noch Jeld! Hilla, wat säst du dann dozo!«
    Bis in die Tagesschau hatte es der Düsseldorfer Lehrstuhlinhaber für Monumentale Bildhauerei gebracht, nur Sekunden
seiner Aktion waren gezeigt worden, genug, um nicht allein die Tante gegen einen Mann aufzubringen, der in Kopf- und Fußbegleitung zweier toter Hasen und Ziegengemecker vom Tonband, acht Stunden seines Lebens auf dem Boden liegend zugebracht hatte.
    »Happening«, erklärte ich der Tante. »Ist Kunst.«
    »Häppening? Nä, so heißt dä Kääl nit. Un Kunst?«, schnaubte die Tante. »Dat soll Kunst sin? Dat kann isch och! Do

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