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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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drehte mich um. Nur die tanzenden Pünktchen im Grün ihrer Augen verrieten sie.

    Frau Hings aber packte den Inhalt einer Plastiktüte wieder aus. Es reichte nicht. Dann noch die Flasche Kröver Nacktarsch, die für die Hesselbachs vorgesehen war. Und noch Nüsse, Salzstangen und die Seife Fa. Zurücktragen tat das der Mann im Kittel. Ganz Kavalier. Die Plastiktüte musste Frau Hings bezahlen. Gebrauchte Ware wurde nicht zurückgenommen.
    Die Mutter hatte den Zwischenfall genossen, da konnte mir ihre perfekt geheuchelte Anteilnahme nichts vormachen. Auch ich musste eine gewisse Schadenfreude zugeben. Betriebsrat Jupp Hings würde am heutigen Fernsehabend einige Einbußen seiner Gemütlichkeit hinnehmen müssen.
    Ungemach erwartete allerdings auch die Mutter. Es kam auf uns zu mit jedem Schritt, der uns der Altstraße 2 näher brachte. Und näher an Piepers Laden. Wir mussten an diesem Laden vorbei. An Piepers Laden, meines Patenonkels Laden, Schützenkönigs und Kirchenvorstands Laden vorbei mussten wir, es führt kein andrer Weg nach Hause. Vorbei am Kolonialwarenhändler Johann Pieper, wo die Butter vom Ballen abgehackt und in Pergament geschlagen wurde; die Wurst per Hand vom Kringel geschnitten; der Schinken - »Wie dick darf et denn sein?« -, der Käselaib unters Messer der Schneidemaschine geschoben wurde, und die Kante gab’s gratis dazu. Aus der Tonne die grünen Heringe freitags, Gurken und Sauerkraut das ganze Jahr. Vorbei an diesem Laden vom alten Schlag, wo man anschreiben lassen konnte, bis die nächste Lohntüte kam. Dort vorbei mussten wir mit den Tüten der Konkurrenz. Plastikkonkurrenz. Die neue Zeit.
    »Komm, mir nehmen die Tasch zwischen uns«, befahl die Mutter listig, und ich rückte der Tasche so nah, dass sie mal der Mutter, mal mir tadelnd an die Beine schlug, als wir uns steifen Schrittes an Piepers Laden vorbeistahlen.
     
    »Hier!« Triumphierend stellte die Mutter zu Hause den Plastikbecher mit saurer Sahne neben den Käse, »reißfest verpackt«. »Dafür bezahl isch dem Pieper dat Doppelte. Un der Holländer kost bei dem auch viel mehr.«

    »Ist aber dafür auch geschnitten!«, suchte ich ein Wort für den einzelhandelnden Patenonkel einzulegen. Aber die Mutter ließ sich nicht beirren: »Dafür wird dä schneller drüsch 43 , un schneiden kann isch jetzt, wie isch will. Un wenn isch nit will, kauf isch im Mini-Markt Scheibletten.«
    »Aber das ›Nimm mich mit‹-Heftchen kriegst du da nicht!«, spielte ich meinen letzten Trumpf aus.
    »Da kauf ich freitags beim Pieper dä Fisch un noch paar andere Sache, dann müsse die mir dat jeben.«
    Die neue Zeit war nicht mehr aufzuhalten vom alten Schlag.

    Ostern erhielt ich meinen zweiten Bildband: Paul Gauguin. Mit guten Noten in allen übrigen Fächern hatte ich die schwache Matheleistung ausgleichen können.
    Astrid Kowalski war kurz vor der Versetzung abgegangen, mit einem glänzenden Zeugnis, alle Noten eine Stufe höhergesetzt. Ihr Vater war mit der Hand in die Fräse gekommen, Teilinvalide. Die Mutter noch einmal schwanger. Astrid wechselte zurück in den Arbeiterstand als Industriekaufmannsgehilfenlehrling in der Fabrik, wo ihr Vater nach seiner Genesung an der Pforte saß.
    Selbst Buche besuchte ich nur noch selten. Ich hatte nur noch eins im Kopf: bis zum Herbstzeugnis, dem letzten vor dem Abitur, eine bessere Mathematiknote. Studienstiftung statt Honnefer Modell. »Anerkennung für besondere Leistung statt Almosen. Rolf, der die Mathematik so liebte wie ich meine Dichter, ließ nichts unversucht, mir auf die Sprünge zu helfen. Mit nachsichtiger Geduld und viel Phantasie übersetzte er mir das abstrakte Pensum in einen quasi vormathematischen Kosmos von Bildern. Zwar verspürte ich weiterhin Abscheu und
Ohnmacht vor den tückischen Zeichen, tat aber mein Bestes, ihnen über Eselsbrücken näherzukommen. Und ich probierte eine Methode, von der ich in Sellmers Unterricht gehört hatte: Cicero erzählt die Geschichte des Dichters Simonides und des thessalischen Fürsten Skopas. Als dieser ein Festmahl veranstaltete, trug Simonides ein Gedicht vor, das der Fürst zu seinen Ehren bestellt hatte. Zu Skopas’ Ärger bestanden die Verse aber zu zwei Dritteln aus einem Loblied auf die Zwillinge Castor und Pollux. Der geizige Skopas wollte dem Dichter deswegen nur ein Drittel des versprochenen Honorars zahlen - den Rest solle er sich doch bei den Zwillingen holen! Kaum hatte Skopas das gesagt, erfuhr Simonides, zwei junge Männer wollten

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