Aufbruch - Roman
grün-weiß, gelb-weiß; die Fahne mit dem schwarzen Balkenkreuz im silbernen Feld auf dem Doppelkreuz des Erzbistums Köln, die Fahne der katholischen Pfadfinder. In schmalen Rabatten dufteten Tagetes, Katzenminze und Heliotrop, dazwischen Buchsbaumkugeln und hochstämmige Rosen; vor der Halle warteten Pechfackeln im Kies auf die Dämmerung. Türen und Fenster des langgestreckten Gebäudes standen weit offen, Brausepulver, die Band, war
schon von weitem zu hören. Auf der hölzernen Tanzfläche vor der Halle nur wenige Paare. Zu heiß. Zu früh.
Für Ehemalige hatte man Tische reserviert, und es gab mir einen Stich, dass ich nicht mehr dazugerechnet oder einfach vergessen worden war. Doch nachdem wir uns schließlich durch das Gedränge im Inneren des Hauses geschoben hatten, wurde ich so herzlich begrüßt wie die anderen.
Sie waren alle gekommen, und es war jedesmal, als käme jemand von einer Weltreise, wenn aus dem Menschenquirl ein bekanntes Gesicht auftauchte, das mit Hallo und Armeschwenken an den richtigen Tisch dirigiert wurde. Alle Mädchen trugen neue Kleider, oder wenigstens solche, die aussahen wie neu. So wie meines.
Doris, in ihrem Jäckchenkleid aus meerblauem Seidenkrepp, das schmale Kleid von zwei dünnen Trägern gehalten, stach sogar Monika aus. Etwas verloren stand sie da in ihrem rotseidenen Ballkleid mit schwarzen Rüschen, und ich bat sie an unseren Tisch, wo sie eine silberne Zigarettenspitze aus ihrer mit blinkenden Schnallen bestückten Handtasche zog und sich alle Mühe gab, ihre etwas zu dünnen Lippen zu einem sinnlichen Schmollmund zu verziehen.
Sie war nicht die Einzige, die heute Abend mit einer ungewöhnlichen Aufmachung verblüffte. Maria trug ihr hellblondes Haar hoch aufgetürmt wie eine Portion Zuckerwatte, was ihr eine erhabene Haltung abverlangte; so, wie Lore, die ihr braunes Haar als kippliges Vogelnest spazieren führte; oder wie Edda, die ihre rosinenfarbenen Löckchen zu Sahnekringeln gehäuft hatte.
Doris war noch schöner geworden. Dazu brauchte sie weder kunstvolle Posen noch Frisuren.
»Allein?«, fragte ich, und sie nickte, und wir gingen nach draußen, beinah wie in alten Zeiten, wenn wir uns, abseits von den anderen, Geheimnisse anvertraut hatten.
»Wirklich allein?«, wiederholte ich meine Frage, und Doris schob ihre Hand unter meinen Arm, als wolle sie sagen: Du bist doch bei mir.
Eine Gruppe Jungen schlenderte auf uns zu, Doris sah mich fragend an. »Aus meiner Klasse«, murmelte ich. »Vom Humboldt.«
Clas überstrahlte alle mit seinen hellen stoppligen Haaren, die ihn noch ein paar Zentimeter größer machten.
»Wen haben wir denn da?«, feixte er, und mit einer vollendeten Verbeugung vor Doris: »Clas Reich. Darf ich bitten?«
Doris ließ meinen Arm wie aufs Stichwort fahren, und ohne sich noch einmal umzusehen, ging sie mit Clas der Musik entgegen, während mich Rolf in ein Gespräch über die zu vermutenden Urteile im Auschwitz-Prozess verwickelte.
In den letzten Stunden vor den Sommerferien hatte Rebmann uns klarzumachen versucht, dass die Justiz gar keine Wahl habe, als nach den Regeln des Strafrechts vorzugehen, das eben nur den Einzelnen bestrafen könne, und das nur, wenn dessen Schuld nachgewiesen sei. Im Rahmen der Gesetze. Und in dubio pro reo, hatte Rolf zynisch angemerkt. Und Clas war im gleichen Tonfall fortgefahren, man könne froh sein, am Ende nicht nur Unschuldige vorgeladen zu haben. Nicht einmal eingestehen wollten die Teufel, die sich gern als »arme Teufel« darstellten, ihre Greueltaten. Nichts gewusst, nichts getan. Keine Täter. Schlimmstenfalls Gehilfen. Nichts als Gehilfen.
Mir hatte der zunehmende Rummel um die Angeklagten nie gefallen. Wo blieb Lenchen? Wo blieben die Opfer? Wo der Pastor Böhm und alle anderen, die sich widersetzt hatten? Müsste man nicht, hatte ich gefragt, gleichzeitig auch all die Menschen kennenlernen, die damals Nein gesagt haben, nicht mitgemacht haben, dagegen waren, wie auch immer. Eine Art Prozess, in dem es am Ende Dank und Ehre gäbe. Keine Urteile, sondern Auszeichnungen. Einen Prozess wie eine Siegerehrung. Und dass man nach solchen mutigen Menschen genau so forschen sollte wie nach den Verbrechern.
Alois war sofort begeistert gewesen: »Und die Zeitungen sollten sie auf den Titelseiten und das Fernsehen in der Tagesschau zeigen!«
Untermauert hatte ich meinen Vorschlag mit Rebmanns Goethe-Zitat, und die Klasse hatte einen »Protest-Prozess« entworfen. Unterschiedliche Punktzahlen
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