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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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bemühte.
    »Gottes Wege sind unerforschlich«, lächelte milde der Ohm. »Bedenken wir immer: Es waren die Juden, die Christus ans Kreuz genagelt haben.«
    »Un Jesus? Dä war doch sälver ne Jud!«, ließ sich nun der Vater vernehmen, der sonst, wenn der Ohm am Tisch saß, stets nach dem letzten Bissen die Flucht ergriff.
    »Jawohl«, sagte ich. »›Denn das Heil kommt von den Juden!‹ Als der Pastor Böhm so gepredigt hat, haben sie den nach Dachau gebracht. Stimmt doch, Oma?«

    Die Großmutter nickte und sah ihren Bruder unsicher und verärgert an. Zum ersten Mal im Leben ließ sein geistlicher Beistand sie im Stich. Was war das für ein Gott, der zuließ, dass Figuren wie Beilschlag und die aus dem Fernsehen, wie all die Verbrecher, die damals frei schalten und walten konnten, davonkamen? Ein Gott, der womöglich nicht einmal mehr im Himmel für Gerechtigkeit sorgte? Gnade walten lassen statt Recht! Die Großmutter zwinkerte mir zu. Ich hielt den Mund. Ihr bisher unerschütterlicher Glaube an die Urteilskraft des brüderlichen Dieners Gottes war ernsthaft erschüttert worden. Die Großmutter würde für »lebenslänglich« beten. Wenn nicht für Schlimmeres. Und ich mit ihr.
     
    Rebmann hatte uns geholfen, die Augen aufzumachen, und wir blieben verwirrt zwischen dem, was wir über gestern erfahren - oder auch nicht erfahren - hatten, und dieser vergesslichen Gegenwart. Die gewann bald wieder Oberhand, und mit ihr überdeckten neue, hellere Bilder das Grauen.
    Zwei jungen Männern gelang in einem Segelflugzeug die Flucht aus der Zone; Cassius Clay wurde Boxweltmeister im Schwergewicht; der 1. FC Köln zum zweiten Mal Deutscher Meister; ein Ferienbus überschlug sich, fünf Tote; in Möhlerath brannte die Hefefabrik. Das Unglück schrumpfte wieder auf menschliches Maß. Die Gegenwart überwältigte die Vergangenheit. Der Alltag musste bestanden werden. Die zwölf Jahre Nazideutschland würden noch lange nicht vergehen. Sie blieben Teil unseres Lebens wie eine gefährliche Unterströmung im stillen See. Aber die Gegenwart nahm uns in den Griff.
    »Wusstest du«, fragte ich Bertram in einem unserer abendlichen Gespräche, »dass die Juden kleine Steine auf die Gräber ihrer Lieben legen?«
    »Keine Ahnung.«
    »Rebmann sagt, die Steine symbolisierten Bruchstücke des zerstörten Tempels in Jerusalem, also eine Art bildliche Wiedervereinigung mit der Heimat. Vielleicht aber, das sagt er auch,
stammt der Brauch aus der Zeit, da man die Toten in der Wüste begrub; Schutz vor wilden Tieren.«
    »Oder«, sagte Bertram, »sie bedeuten einfach nur, dass man an sie denkt.«

    In Dondorf hatte ein Supermarkt aufgemacht. Endlich konnte auch die Dondorferin mit der Zeit gehen. Die Mutter drängte mich, sie zu begleiten, als führe sie mir ihr Eigentum vor: »Bei Mini ist der Kunde König. Selbstbedienung ist ja so praktisch.« Man hatte den Eindruck, hervorragend bedient zu werden, obwohl man selbst es war, der sich bediente. Oder gerade deshalb? »Die machen sojar Musick do. Dä janze Tag!«
    Der Mutter stand der stabile, hochrädrige Drahtwagen gut. Selbstbewusst steuerte sie die metallisch klappernde Karre durch die Gänge, hatte allen Grund, sich in den spiegelnden Säulen zufrieden zu mustern: eine adrette kleine Frau im Einkaufsstaat, den Kittel abgelegt; Pantoffeln, mit denen sie mal eben zu Piepers Laden springen konnte, gegen schicke Halbschuhe vertauscht. Zu Mini ging man in Rock und Bluse, Weste drüber, das wirkte »angezogen«, oder im Kostümchen vom vorvorigen Jahr. Nicht ganz so schick wie in die Kirche, aber immerhin. Noch konnte das Einkaufen den Kirchgang nicht ersetzen; aber sehen und gesehen werden: Das galt auch hier. Der Gang zum Friedhof hatte schon Konkurrenz bekommen.
    Heute trug die Mutter ein beigebraunes Hahnentrittkostüm mit hellblauer Bluse. Nach Fräulein Kaasens Tod war die Kleiderversorgung der Mutter vorübergehend in einen Engpass geraten, bis Monikas Mutter, nur wenig kräftiger als meine, Abhilfe schaffte. Was im Dorf einiges Erstaunen hervorrief, hatte man doch bislang jeden Wechsel der Kleidungsstücke von einem Körper auf den anderen genau verfolgen können. Zudem hatte Monikas Mutter es nicht nötig, im Quelle-Katalog oder
bei C & A nach Sonderangeboten zu suchen. Sie kaufte in Köln auf der Hohe Straße bei Poensgen und elégance, in Läden, die Boutique hießen. Die Erscheinung der Mutter nahm dadurch eine Wendung, die einige Dondorferinnen fast neidisch machte. Sie trug die

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