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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Reisezielen. Und noch einmal, diesmal mit unüberhörbarer Mahnung: »Macht sechsundfünfzig achtzig und fünf Pfennige. Macht sechsundfünfzig fünfundachtzig.«
    Frau Hings versorgte die letzte abgestempelte Trophäe in der Plastiktüte und holte ihr Portemonnaie aus der reißverschlussgesicherten Vorderklappe ihrer Einkaufstasche. Kramte, zog zwei Zwanzig-Mark-Scheine und einiges Silbergeld heraus und reichte es der Kassiererin. Sah die Frau in ihrem blauen geschäftsmäßigen Kittel, der ihr, anders als ein gemusterter Haushaltskittel, zweifellos Autorität verlieh, unsicher an.
    »Hier, mehr hab isch nit bei mir.« Wie zum Beweis riss Frau Hings ihr Portemonnaie auseinander, stülpte die Münztasche nach außen, kippte die Börse nach unten und schüttelte sie. »Könnt ihr dä Rest anschreiben? Isch komm morjen widder vorbei.«

    Die Kassiererin zog den Blick aus der offenstehenden Kasse, sah Frau Hings fassungslos an, als habe die ihr ein sittenwidriges Angebot gemacht.
    »Anschreiben?«, wiederholte sie und warf den Kopf mit den kurzgeschnittenen schwarzen Haaren zurück. »Nix anschreiben. Bezahlen.« Der italienische Akzent war unverkennbar. »Bar bezahlen«, wiederholte die Frau freundlich, aber bestimmt unter wiederholtem Nicken.
    Hinter uns hatte sich eine Schlange gebildet. Hälse wurden gereckt. Warum ging das da vorne an der Kasse nicht weiter?
    »Isch hab aber doch nit mehr bei mir.« Frau Hings’ Stimme hatte einen weinerlich bettelnden Tonfall angenommen.
    »Dann Sachen zurück ins Regal.« Die Kassiererin blieb ruhig, höflich, fest.
    »Maria«, wandte sich Frau Hings an die Mutter. »Könnt ihr mir helfen?«
    Die Mutter schüttelte den Kopf. »Nä, beim besten Willen nit. Isch bin froh, wenn isch dat hier bezahle kann.« Die Mutter wies auf ihren bescheidenen Einkauf. Ihre Augen funkelten. Da hatte sie was zum Erzählen!
    »Ävver«, Frau Hings fiel vor Aufregung, Scham und Ärger ins Platt, »die Kanake künne us doch nit verzälle, wat mir ze dun han!«
    Die Mutter zuckte die Schultern im Hahnentrittkostüm. »Die tun nur ihre Pflischt!«
    Die Kassiererin griff nach einer Klingel, schwang die Schelle wie zu einer Bescherung. Die beiden Zwanziger und das Kleingeld als Beweisstücke vor der nun wieder geschlossenen Kasse, die höhnisch den Betrag 56,85 anzeigte.
    Das Murmeln der Frauen war verstummt. Alle versammelten sich um die Kasse. »La Paloma ohe«, klang es besänftigend aus den Lautsprechern, »einmal muss es vorbei sein.«
    Ein kurzbeiniger, untersetzter Mann im weißen Kittel drängte sich an Einkaufswagen und Frauenkörpern vorbei nach vorn.

    »Was ist hier los?« Vier Silben, so ausgesprochen, dass gleich klar war: keiner aus Dondorf, kalte Heimat, Ostpreußen, Schlesien. Gemächlich ließ er seine kleinen runden Augen im roten, pausbackigen Gesicht von der Kasse über die Geldscheine zu Frau Hings und zurück wandern.
    »Doch kein Falschgeld?«, versuchte er zu scherzen; aber zum Lächeln war keiner der beiden Frauen zumute.
    »Nä, nix falsch«, die Frau an der Kasse nickte noch eifriger. »Aber nix genug.«
    »Ja«, gab Frau Hings zu. »Dat da«, sie wies auf ihre Barschaft, die unter den Blicken des Mannes noch weiter zu schmelzen schien, »ist alles. Mehr hab isch nit bei mir. Aber ihr könnt et doch anschreiben.«
    »Meine Dame, meine Dame«, dienerte der Mann.
    Frau Hings, meine Dame, geschmeichelt, wagte den Kopf wieder ein Stückchen höher zu tragen. An den Wäschemann erinnerte mich der Weißkittel, an seine unterwürfige Liebenswürdigkeit, seine höfliche Geschäftigkeit.
    »Meine Dame, meine Dame!« Der Mann machte eine Pause, aber er hob die Hände auf eine Art, die mir keinen Zweifel ließ, dass jetzt ein »Leider, leider« kommen musste. Herzliches Bedauern. Unabänderliches Faktum. »Wir haben unsere Vorschriften.« Der Mann verzog das Gesicht, dass es aussah, als habe er gerade seine Frau begraben oder seinen besten Freund. Tiefbetrübt versuchte er, Frau Hings in die Augen zu schauen, aber die hatte die Augen niedergeschlagen, Kopf auf der Brust, stand sie vor der Respektsperson wie ein ertapptes Schulmädchen. Murmelte noch einmal: »Isch komm doch morjen widder.«
    »Da sind Sie uns herzlich willkommen. Aber für«, der Mann griff nach den Münzen, zählte sie, runzelte die Stirn, »für vierzehn Mark zweiundsechzig müssen Sie die Waren wieder zurücktragen.«
    »Däm dit isch doch dä Driss vör de Föß knalle«, hörte ich die Mutter hinter mir knurren. Ich

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