Aufbruch - Roman
die kichernden Mädchen, die Jungens doof fanden und ihnen heimlich hinterherglucksten.
»Weißt du noch?«, Christel schlug die Hände vors Gesicht und lugte mit gespieltem Entsetzen zwischen den Fingern in den Wald, den Krawatter Busch, die Bahn fuhr dicht an den Bäumen entlang.
Weißt du noch? Es war eine Mutprobe gewesen, am Holtschlösschen auszusteigen, so weit wie möglich in den Wald hineinzulaufen und dort irgendwo gut sichtbar ein Zeichen zu hinterlassen, einen Beweis: Ich war hier, den die nächste Abenteurerin dann bestätigen, womöglich übertrumpfen musste. Irgendwann verstauchte sich Christel dabei den Knöchel. Die Eltern hatten getobt, und uns war das Spiel verleidet.
Kichernd machten wir uns auf unseren alten Schulweg, gefolgt von Frankie, der darauf achtete mit seiner goldigen Blonden hinter uns zu bleiben. Vor dem dritten Haus auf der linken Seite der Akazienallee reichten die Bäume bis in den ersten Stock, dorthin, wo vor Jahren ein Baby unseren Schwärmereien für Gustav Geffken, Deutsch- und Musiklehrer, ein Ende gemacht hatte. Karola raffte den Rock ihres blassgelben Organzakleides hoch und knickste, Christel platzte heraus, wir knicksten und hopsten und gackerten, dass Frankie sich an den Kopf tippte und sein Mädchen an uns vorbeizog. Schon hatte Christel von weitem eine Gestalt erkannt, Maria, hierher, winkte sie, als könne Maria auf schnurgerader Straße in die Irre gehen. Auch sie war damals dabei gewesen, kannte das »Weißt du noch«-Spiel, ging wie wir kichernd und prustend in die Knie und begann, während sie mir schmachtend in die Augen sah, zu singen: »Sie wohnte im weißen Haus am Möör - und war die Tochter vom Gouvernöör.« »Und keine der vielen Orchideen«, piepsten wir nun alle vier, »war auf der Insel so schön! Wie …« Maria, die sich dirigierenderweise vor uns aufgebaut hatte, winkte ab, breitete die Arme aus, dass das enge Oberteil in den Brokatnähten krachte, und holte das Letzte aus uns heraus: »Wie Roooosalie, wie Rohosalieh!«, heulten wir, und wir waren wieder zwölf, und in dem Haus wohnte unsere Liebe, wohnte unser schöner glattschwarzhaariger Gustav, und wir brachten ihm nach wochenlangem Üben im Stadtpark ein Ständchen mit Tanzbegleitung.
Ein Fenster des angesungenen Hauses flog auf. »… liäh«, verklang es aus Christels Mund in einem Bogen nach unten, ehe auch sie den Mund zuklappte. Eine grauhaarige Frau streckte den Kopf heraus, legte die Hand hinters Ohr und beugte uns die lauschende Gesichtshälfte entgegen. »Habt ihr wat jerufen?«, bellte sie mit der Stimme der Schwerhörigen. Ausgelassen winkten wir ihr zu und machten uns davon.
Weißt du noch, weißt du noch? Wie der Lehrer uns damals, ahnungslos, dass er damit unsere entflammten Gefühle tief verletzte, nicht nur eine Frau, sondern auch einen Säugling
als die Seinigen vorgestellt hatte. »Aber der Kuchen hat doch geschmeckt«, schloss Karola die Geschichte ab. »Nur dem Edda nit«, konnte sich Christel nicht verkneifen. »Die war rischtisch verknallt in den. Aber jetzt erzählt doch mal, wat ihr so macht. Mir sind doch keine alten Frauen, die sich nur ahle Kamelle verzälle.«
Weißt du noch? Und: Was machst du so? Wie ein Kehrreim wanden sich die beiden Fragen durch den Abend. Ging es um die Arbeit, war nicht viel zu erzählen. Entweder man hatte wie Christel schon die Gesellenprüfung als Schneiderin bestanden und wartete jetzt auf die Zulassung zur Modefachschule in Düsseldorf, oder man stand wie Karola und Maria kurz vorm Ende der Lehrzeit im Büro. »Und hiermit?«, wagte ich schließlich zu fragen und klopfte mir aufs Herz. »Alles gesund«, kicherte Christel. Maria nickte versonnen. Karola knurrte: »Dräckskääls.«
Noch ehe ich das Märchen von meinem finnischen Freund auftischen konnte, kam die Stadthalle in Sicht. Vor Jahren, so Cousine Hanni, habe man das Cäcilienfest noch im November und im Pfarrsälchen gefeiert, wegen des Andrangs dann in größere Räume umziehen müssen, erst in einen Saal und jetzt in die Stadthalle, die kriege die Kirche von der Stadt um Jotteslohn.
Die Straße zur Stadthalle, in einem kleinen Park gelegen, schmückten Fahnen. Einträchtig nebeneinander hing, was des Kaisers und was Gottes war; die niederrheinische Welle, das wilde Pferd, die Lippische Rose auf den grün-weiß-roten Farben Nordrhein-Westfalens; der Anker in den Pranken des blaugekrönten doppelschwänzigen Bergischen Löwen. Dazwischen immer wieder Kirchenfahnen,
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