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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Gesicht.
    »Trink das, dann kannst du schlafen. Du weißt, wo du mich finden kannst. Und Gott ist überall für dich da.«
    Draußen klapperte Geschirr. Mavilia sog hörbar den Atem ein. »Ich werde für dich beten, Hildegard.«
    An der Tür stieß sie fast mit der Mutter zusammen. »Ihre Tochter braucht Ruhe«, sagte die Schwester. »Der Schluckauf hat sie schon sehr geschwächt. Ein heißes Bad würde ihr guttun.«
    »Wärm bade tun mir nur am Samstag«, erwiderte die Mutter barsch. »Kann et dann morjen nom Maternus jonn?«
    »Auf keinen Fall«, befahl Mavilia. »Nicht in diesem Zustand.«
    Ich schickte ihr noch einen Schluckauf hinterher. Schleppte mich schon am frühen Abend vom Sofa ins Bett, leerte dort das Fläschchen in einem Zug und wartete auf die Erlösung. Vom Schluckauf. Die Wörter für die Lichtung waren mir gleichgültig geworden. Mein Kopf war leer. Der Schluckauf hatte ihn vom Denken, von dem Verlangen nach Wörtern leergefegt. Die Leere war mir recht. Ich wollte nur noch Ruhe für meinen Körper.
    Doch dann kam der Vater und sagte, er wisse alles, und die Mutter sagte, sie habe alles dem Vater gesagt. Schande hätte ich über mich und die ganze Familie gebracht, und ich solle mir ja nicht einfallen lassen, die Sache irgendwem zu stecken. Ich erwiderte, dass ich keine Sekunde länger hierbleiben wolle, aber da war der Vater schon über mir, ich versuchte, mich loszureißen, aber er hielt mich gepackt, und die Mutter stand hinter dem Vater, hielt ihn wie zur Verstärkung um die Taille geklammert und schrie: »Hau drop!« Er sah mich an
mit Augen voller Hass, ich riss, zerrte, wollte weg von diesen Augen, diesen Händen, dieser Schande, »Schande«, schrien jetzt Vater und Mutter aus einem Munde, und der Vater schlug zu. Ich schlug zurück. »Dräckskääl«, schrie ich, und er schrie: »Schamm disch!«, und drosch auf mich ein, und ich schlug zurück mit aller Kraft. Jeden Schlag gab ich ihm zurück. Ich hatte Angst, er würde mich umbringen; aber ich wusste, gäbe ich auf, würde ich anfangen zu weinen, und er hätte recht und die Lichtung hätte recht, »Dräckskääl«, schrie ich, und dann spürte ich eine zweite Hand, eine Hand auf meiner Schulter: »Wat schreis de dann so?« Das Gesicht der Mutter über mir. »Werd wach! Wat schreis de dann so nach dem Bertram? Du wecks jo dat janze Huus!«
    »Schlaf weiter«, ich griff nach der Hand der Mutter, die sie mir unwillkürlich entzog. »Nur der Schluckauf. Nix Schlimmes.«
    Lange lag ich wach. Ließ einen endlosen Regen toter Steine auf mich herabfallen, bis ich unten lag auf dem Grunde des Rheins, gewiegt und aufgelöst in seiner Strömung.
     
    Jahrelang hatte ich Mickels Praxis in der Villa aus den zwanziger Jahren nicht mehr betreten. Auf der Kommode im Flur standen Gladiolen; es roch nach blondem Tabak, ein gepflegter, vertrauenerweckender Geruch. Das Wartezimmer war karg, ein paar Stühle, ein kleiner Tisch, doch Mickels Arbeitsraum sah einem gutbürgerlichen Wohnzimmer ähnlicher als einer Ordination. An den Wänden Bilder, nachgedunkelte Landschaften und zwei fürsorglich unter Glas gerahmte Portraitphotos bärtiger Männer; die grün-verblichene Seidentapete und düstere Holzmöbel gaben dem Raum etwas Feierliches. Die Sessel vor und hinter dem Schreibtisch flößten mit ihren breiten Lehnen, kräftigen Beinen und fülligem Plüschbezug Vertrauen ein. So, wie der Doktor selbst, der mir, seit er dem Großvater den Totenschein ausgestellt hatte, kaum verändert schien. Nur der kleine Schnurrbart, der seinem runden Gesicht einen Anflug gutmütiger Clownerie gab, war ein wenig grau geworden, das Haar
dünner. Doch noch immer spürte man allein bei seinem Anblick etwas von der Gesundheit, die er zu geben wünschte, und, wenn dies nicht möglich war, den Trost, den er für jeden Schmerz, auch den letzten und größten, bereithielt. Es tat schon wohl, seine gescheite, gütige Stimme zu hören, die lindernd wunde Stellen zu umspülen schien. Kinder konnte diese Stimme geradezu betören, wenn er sich dem Ort ihrer Schmerzen näherte und sie mit täppischem Brummen oder aufgeregtem Summen in eine Bären- oder Käferwelt lenkte. Für solche Tröstungen war ich längst zu alt. Doch »Wo tut’s denn weh?« fragte mich Mickel auch heute, als wäre ich noch das kleine Mädchen mit Windpocken und Mumps. Ich brauchte nicht zu antworten. Das tat mein Schluckauf.
    »Seit wann?«, wollte der Doktor wissen.
    Sehr nah war diese Frage an den Wörtern für die

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