Aufbruch - Roman
Zweige, biss in einen der Äste und schüttelte ihn mit den Zähnen, Zähne, die krumm geblieben waren ohne die Spange, zerquetscht in den Händen des Vaters vor einem, drei, vor hundert Jahren, nun mussten doch endlich die Tränen kommen, der Schluckauf löste mir die Kiefer, riss mich hoch, trieb mich voran, nein, nicht hier an der Großvaterweide, weiter, nicht hier, hier nicht, nur weiter, bis sie kommen würden, die Tränen. Tränen, in Tränen zerfließen, einfach zerfließen, sich auflösen, keine Menschenseele weit und breit, keine Vögel, keine Kähne, träge spülten sich die Wellen meinen Füßen entgegen, Füße, die immer noch die Schuhe von gestern trugen, weiße Schuhe, reine Schuhe, ein wenig vom Sand verfärbt, den
würde man abspülen können. Abspülen, dachte ich, sich einfach abspülen von der Welt wie Sand von den Schuhen, Sand aus den Steinen.
Ich nahm einen Stein in die Hand. Dunkelgrau, gezackt, ein Wutstein. Ich sah ihn lange an. Er hatte kein Gesicht. Kein lebendiges und kein totes. Die Steine selbst waren tot.
Ich ließ den Rock fallen, zerrte den Schlüpfer herunter und stellte mich breitbeinig in den Strom, gegen den Strom, lud ihn ein, den Rhein, Vater Rhein, Vater, vergib ihnen, Vater unser, durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld; schuld, schuld, schuld, war ich allein, schuld, dass ich Anke an ihren Bus gebracht, die Trauernden trösten, schuld, mich nicht früher auf den Weg gemacht, schuld, die Bahn verpasst, den fremden Fahrer angelacht zu haben. Schuld, schuld, schuld. Hilla: schmutzig, sündig, selberschuld.
Vom Kirchturm schlugen die Glocken zur Wandlung, aus Brot und Wein der Leib des Herrn, der Sünde Lohn, Gottes Thron, der Schluckauf trieb mich wieder ans Ufer. Scharf gruben sich die Steine in die nackten Sohlen, ich machte mich schwer, bohrte die Füße abwechselnd zwischen die Kanten der Kiesel, genoss den schneidenden Schmerz und tastete an meine Brust, wo mein steinernes Herz nicht aufhörte zu schlagen.
Ich hockte mich in den Schotter, es stieg heiß aus den Steinen, fest schlang ich die Arme um die Beine, biss mir bis aufs Blut in die brackig schmeckenden Knie. Bei der Großvaterweide überließ ich mich der Mittagssonne, ließ mir die Sonne auf den Bauch brennen wie eine Kasteiung, öffnete die Beine weit, stellte die Knie hoch, hob mein Geschlecht in die Sonne, ausbrennen sollte die Sonne, was geblieben war durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld, auslöschen sollte die stechende Sonne, schwarz verbrennen, verkohlen, zu Staub sollst du werden, aus Staub geboren, Staub fressen, selberschuld. Der Schluckauf jagte mich hoch, ich zog die Unterhose wieder an.
Pünktlich zum Mittagessen saß ich am Tisch, schaute auf meinen Teller, schaute auf Rindsrouladen mit Rotkohl. »Un dat bei der Hitz«, knurrte der Vater und fuhr mit dem Messer ins gerollte Fleisch, dass Speck und Gurkenscheiben herausquollen, die Mutter schielte geduckt zu ihm hinüber, vom Schluckauf gestoßen, klirrten mir Messer und Gabel aufs Porzellan, das Fleisch zu verletzen war mir nicht möglich, und die Großmutter lamentierte: »Dä Papst es am Hickse jestorwe.«
Sie rückte dann aber doch ihren Melissengeist raus, allerdings erst nach dem Griespudding, den der Vater, »Bä!«, zurückschob, dass der Himbeersaft aufs Wachstuch schwappte, worauf die Mutter, »Josäff!«, nach dem Putzlappen sprang und der Vater die Küchentür hinter sich zuschlug.
Ein Zuckerstück nach dem anderen mit immer höheren Dosen des Klostergeistes bekam ich zu kauen, langsam, gründlich, nach dem zehnten Stück rebellierte mein Magen. »Et is doch nur Verschwendung«, brach die Großmutter die Prozedur beleidigt ab, »do hölp nur noch bäde«, und zog sich mit ihrem Rosenkranz zurück. Der Vater, nach einem Blick auf meine überm Waschbecken würgende Gestalt, trat mir seinen Platz auf dem Sofa im Wohnzimmer ab, wo die Mutter mir und meinem Schluckauf mit Wärmflasche und Kamillentee ein Bett machte. Ich stellte den Kinderfunk ein - Eduard Marks erzählte Das kalte Herz -, klammerte mich an seine Wörter gegen die meinen, »Schatzhauser im grünen Tannenwald«, versuchte zu schlafen, der Schluckauf ließ es nicht zu, »lässt dich nur Sonntagskindern sehn«.
Nachmittags kam Tante Berta und mit ihr so viel mitreißendes Leben, Lebenskraft, dass sie fast zu mir durchgedrungen wäre. »Et mööt ens widder räne« 45 , riss sie sich die Bluse auf. »Die
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