Aufbruch - Roman
Lichtung, nah an der Quelle meiner ungeweinten Tränen, aber auch er war schon weiter, ehe ich eines der Wörter zulassen konnte, heraufholen konnte in meinem Kopf und erst recht in meinem Mund.
»Zu viel gegessen?«
»Ja«, sagte ich.
»Zu viel getrunken?«
»Ja«, sagte ich.
Lächelnd drohte mir der Arzt mit dem Finger: »Bisschen zu viel gefeiert was? Naja, aber aufgepasst, bis zum Abitur ist es ja nur noch ein Weilchen. Doch wenn’s weiter nichts ist«, Mickel machte sich in seinem Arzneischrank zu schaffen. »Nein, hier hab ich’s nicht, warte einen Augenblick.«
Mickel ging hinaus, und ich nahm eine Zeitschrift vom Schreibtisch des Doktors, sie fiel von selbst auseinander, und ich ließ das Heft mit einem Schluckauf fallen, stieß es mit dem Fuß zwischen die geschnitzten Löwentatzen weit unter die Eichenplatte. In dem Wissenschaftlich-praktischen Ratgeber für den Allgemeinmediziner steckte eine Postkarte, nein, mehrere Karten waren es, doch mir genügte dieses eine Photo,
ein Photo, wie es mir Sigismund bei unseren letzten Beisammensein hatte aufdrängen wollen: ein Paar, nackt, gut ausgeleuchtet.
Mickel kam mit einem braunen Fläschchen zurück, und ich schleuderte ihm einen Schluckauf entgegen, als führen tausend Säue aus meinem Leib.
»Das hier hilft bestimmt.« Die Stimme des Arztes klang beruhigend, zuversichtlich. »Jetzt gibt es erst mal zehn Tropfen, dann jede Stunde noch mal zehn. Heute Abend ist alles überstanden.«
Mickel sah zu, wie ich gehorsam das Glas leerte und legte mir die Hand auf die Schulter. Mein Schluckauf ruckte sie weg.
»Na, der Ernst des Lebens hat ja noch etwas Zeit. Genieß die Jugendjahre, Hildegard. Ja, die schöne Jugendzeit, die kommt nicht wieder.« Den letzten Satz hatte der Arzt fast gesungen, ein voller Bass, heiser vor Sehnsucht.
Ich brauchte Luft, stieß sauer auf, herauf durch den Schluckauf, warf mich, den Schluckauf übertreibend, zur Seite, um die Hand, die mir der Mann entgegenstreckte, nicht ergreifen zu müssen.
»Heute Abend ist alles vergessen«, rief der Doktor mir noch einmal hinterher.
Ich hatte große Lust, die Vase mit den Gladiolen von ihrem Sockel herunterzuwischen, nur so, aus Versehen, ah, das splitternde Geräusch der Scherben auf den schwarz-weißen Fliesen!
Wieder ging ich an den Rhein, ans Wasser. Es war heiß wie gestern, der Himmel ein ewiges Tintenblau, darunter die flatternden Schatten der Möwen, bevor sich die Vögel träge der Strömung anvertrauten. Nur lange genug liegen bleiben musste ich, bis die Sonne jeden Gedanken aus dem Kopf gesogen hatte. Hart und trocken werden wollte ich, ausgebrannt, die Nacht auf der Lichtung im kalten Schmelztiegel der Sonne verdunstet, verraucht. Lange lag ich so. Drehte mich auf den Bauch, und die Sonne schloss sich wie eine glühende Decke über meinem
Rücken. Der Wellenschlag, mal weich und regelmäßig, dann wieder aufbrausend, unstet, erregt vom Bug eines Schiffes, drang gefiltert durch Myriaden Teilchen von Staub und Luft an mein Ohr. Der Himmel, als ich mich wieder umdrehte, weiter weg denn je.
Bei Maternus packten die Frauen jetzt ihre Brote aus, erzählten vom Wochenende, den Kerlen, mir brach der Schweiß aus. Ich sprang auf, schüttelte den Sand aus den Kleidern. Ziellos strich ich am Ufer entlang. Gestern hatte ich kaum bemerkt, wie weit sich das Wasser von den Kieseln zurückgezogen hatte, der Schlamm war gedörrt, in zahllose Placken gesprungen. An einer der Kribben hatte sich ein totes Schaf verfangen, die Vorderhufe zwischen die Steine verkeilt. Es sah mager und schutzlos aus mit seinem nass angeklebten Fell. Grausam gelassen wiegten die Wellen sein Hinterteil. Um die offenen Augen hatten sich schwarze Fliegen versammelt, dicht wie eine Augenklappe. Über Nase und Schnauze spannte die Hitze die Haut, glänzend glasiert. Der Kadaver verströmte einen süßlich-stechenden Geruch. Ich rannte, als könnte der Geruch nach mir greifen. Mickels Flasche fiel aus meinem Beutel, ich trank einen Schluck in den Schluckauf hinein, rannte schluckauftorkelnd weiter zur Großvaterweide und grub mein Gesicht in die kühlen Zweige.
War ich eingeschlafen? Etwas Rotes schimmerte durch den Laubmantel. Die Zweige schlugen auseinander. Ein kleines Mädchen stand da, die Wangen rotglühend vor Entdeckerlust wie sein Röckchen.
»Hast du Hühnchen gegessen?«, fragte es zutraulich und kroch zu mir unter den Strauch.
»Hühnchen, wieso?«, schluckste ich.
»Weil du so gackerst«, kicherte
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