Aufbruch - Roman
Tomate verschrumpele am Strooch.«
Ihr Blick fiel auf mich, zusammengekauert unter einer Decke. Die Tante kniff die Augen zusammen und strich sich über die Oberlippe, mit dem leichten Schnurrbart, dessen längere Haare
an den Seiten bebten, wenn sie sich erregte. Verschränkte die Arme über der Brust und sah mich prüfend an. Sie war die Erste, die fragte: »Wat has de dann jedonn? Wo kütt dat Hickse dann her? Has de wat Schleschtes jetrunke?«
Ja, hätte ich am liebsten geschrien, aber da war die Flasche an meinem Mund, der Flaschenhals in meinem Hals, der Fusel, die Kotze, und ich biss die Lippen zusammen, die mir der Schluckauf zu einem Wehlaut auseinanderriss, dass die Tante zusammenzuckte und sich entrüstet umsah, als stünde der Unhold hinter ihr.
Was wir denn dagegen gemacht hätten, wollte sie wissen, und ich zählte ihr, von immer neuem Hicksen unterbrochen, unsere Hausmittel auf.
»Wenn dat bes hück Owend 46 nit weg is, muss der Mickel her«, stellte sie missbilligend ihre Diagnose. »Dä Papst es am Hickse jestorwe. Tut dir wat weh?«
Ich schüttelte den Kopf. Was tat mir weh? Mein Ich tat mir weh. Selberschuld tat mir weh. Mein altes Ich war etwas, das im Sterben lag, Ich hatte einen neuen Namen, Ich hieß Opfer und das Opfer Selberschuld. Dass die Rippen mir wehtaten, dass ich etwas spürte, was alle Menschen hatten, Rippen und Schluckauf, dieser Schmerz tat mir wohl; ich konnte ihn benennen, die Wörter zulassen. Ich brauchte ihn.
Am Abend war der Schluckauf noch da, aber Mickel nicht zu Hause, erst am nächsten Morgen würde er von einem Besuch im Hunsrück wiederkommen. Die Großmutter lief ins Krankenhaus, wo sie morgens kartoffelschälen ging, holte Schwester Mavilia, eine zarte Person, von den Jahren gebückt. Sie hatte mir als Säugling das Leben gerettet, den fieberheißen Leib mit den verklebten Lungen ins eisige Wasser getaucht und zum Luftschnappen und Weiteratmen gebracht. Frisch und unerschrocken sah sie mich aus ihren altersblassen Augen an und bat Mutter und Großmutter, sie mit mir allein zu lassen.
»Wat soll dat dann«, murrte die Mutter, wagte aber nicht zu widersprechen.
Aus dem weiten Ärmel ihrer Kutte schlüpfte Mavilias knöcherne, trockene Hand in die meine, lag da zutraulich, still, kleiner Vogel, Vogelbein. Mit der anderen strich sie mir über die Stirn, lang und sanft, dass ich den Kopf zur Seite werfen musste, weg von dem milden Kamilleduft, diesen feinen Tuschestrichen, dieser kühlen Wärme. Es tat ja so wohl, diese Sachtheit auf meiner Stirn, dieser schüchterne Trost, Labsal, Erlösung, lösest endlich auch einmal meine Seele ganz, ich stieß die Hände von mir. Aus meiner Hand stieß ich Mavilias Hand und von meiner Stirn. Ich durfte sie nicht dulden. Nie wieder durfte ich Hände an mir dulden.
»Willst du mir etwas erzählen, Kind?«, fragte Mavilia. Ein Schluckauf ließ meinen Kopf verneinend zucken.
»War es so schlimm?« Die Schwester hielt die Arme über dem Kreuz auf ihrer Brust verschränkt, beide Hände tief in den Ärmeln verborgen. Ihr freundliches Gesicht beugte sich mir bekümmert entgegen.
Fast hätte ich genickt, vielleicht bewegte ich sogar schon den Kopf von oben nach unten, vielleicht hätten sich sogar die Wörter eingefunden, Wörter für die Lichtung, aber da setzte Mavilia zu einem GegrüßetseistduMaria an und forderte mich auf, mitzusprechen. Ich leierte mit, leierte ihrer Stimme schluckaufhinkend hinterher, sinnleere Silben, wie ich sie seit Stunden benutzte. Mavilia brach ab.
»Gott kannst du alles anvertrauen«, sagte sie. Meine Antwort war ein rülpsendes Röhren, ich wandte mich von ihr ab. »Er versteht dich auch ohne Worte: Er ist für dich da, auch wenn du nicht für ihn da bist.«
Hätte ich Wörter gehabt, Wörter für die Lichtung, hätte ich sie ihr entgegengeschrien, entgegengeheult, was sollte ich anfangen mit einem Gott ohne Worte, Gott ohne Worte war Gott ohne Schutz, er hatte mich alleingelassen, allein ohne Schutz, ohne Worte, allein mit Scham und Schuld, GegrüßetseistduMaria.
»Der Teufel«, sagte sie und zog eine kleine Flasche aus den Falten ihres Gewandes, »hat viele Gesichter. Wenn wir ihm begegnen, erkennen wir es manchmal nicht sogleich. Ihn zu besiegen, hilft uns nur Gott.«
Und ob ich ihn erkannt habe, wollte ich schreien, hat einen feinen Haarschnitt, der Teufel, feine Manschetten und feines Hochdeutsch. Stattdessen blökte der Schluckauf aus tiefem Rachen der Schwester ins feine
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