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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Ich hatte die letzte Bahn verpasst, hatte bei Monika geschlafen, das war schon vorgekommen, und nun hatte ich den Schluckauf, einen mächtigen Schluckauf, davon geht die Welt nicht unter, was war schon dabei. Luftanhalten würde die Mutter sagen, JelobtseiJesusChristus würde die Großmutter mit Klosterfrau Melissengeist und Kamillentee kommen, und der Vater würde knurren: Kumm nächs Mol fröher heim. Gut, dass Bertram mit den Pfadfindern im Zeltlager war. Als custos, Aufseher, wie er mir, amo, amas, amat, stolz berichtet hatte.
    Die Glocken der Georgskirche taten drei Schläge, zeigten die Wandlung an. Im Nachbarhaus standen die Fenster weit offen; die Nachbarinnen sangen. Das taten Julchen und Klärchen jeden Sonntag. Klärchen mit ihrem brüchigen Sopran, Julchen mit einem tapferen Alt, der weit eher aus den Furchen ihrer schweren Brüste zu steigen schien, denn aus ihrer Kehle. Sie sangen Meerstern, ich dich grüße - »Sag mir, was ist ein Meerstern, ein Meerstern - o Maria hilf, Mutter Gottes, süße, o Maria hilf, Maria hilf uns all in diesem Jammertal«, so sangen die Schwestern in
sonntäglicher Friedfertigkeit, gleich würden sie Es dunkelt schon in der Heide singen , und ich schlich durch den Garten zur Hintertür und ins Haus, in den Geruch von gebräunten Zwiebeln und scharf angebratenem Fleisch. Ich hielt den Magen mit einem Schluckauf nieder. Über der Eckbank in der Küche hing Jesus am Kreuz, schaute vorbei am Öllämpchen zu seinen Füßen auf das gelbbraun gekringelte Wachstuch, dem Schüsseln und Teller tiefe kreisförmige Spuren eingedrückt hatten.
    Die Flurtür zur Küche flog auf. Die Mutter. Mit hängenden Armen sah sie mich missmutig an. »Nu sach bloß mal, wo de wars. Mir mache uns doch Sorje, Kenk. Wars de beim Monika?« Wenn die Mutter mich Kenk nannte, hatte sie sich wirklich um mich gesorgt.
    »Ich« - Schluckauf - »ich hab die letzte Bahn verpasst.« Schluckauf - »Beim Monika war ich« - Schluckauf. »Und einen Durst hab ich!« Ich hielt das Gesicht unter den Wasserhahn, bog den Kopf tief in den Nacken, spülte den Mund aus, immer wieder, spülte und spuckte, schluckte und spuckte, schluckte, spülte und spuckte, bis ich endlich in vollen Zügen trank.
    »Ich soll dich auch schön von Frau Blumenthal grüßen. Sie hat auch wieder neue Sachen für dich. Und jetzt schaff ich es noch ins Hochamt.«
    Das versöhnte die Mutter vollends mit mir. »Kenk«, sagte sie noch einmal, »willst du denn nit wat essen, du has doch et Hicksen«, aber ich war schon auf der Treppe, riss mir das Kleid herunter, fuhr in einen Cordrock, eine weite Bluse und rannte aus dem Haus.
    Vom Kirchturm begann es zu bimmeln, hoch und schnell und hell, meine Scham und Schuld hinausgeläutet über die Dächer von Dondorf und weit darüber hinaus, in die Ohren der Frommen, die wie ich, das Gebetbuch unterm Arm, den Glocken entgegeneilten, o Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach.
    Ich machte kehrt, machte einen großen Bogen um die Dorfstraße mit ihren Kirchgängern, rannte, vom Schluckauf besessen,
durch verlassene Nebenstraßen, die Vorgärten entlang, wo die Hitze in den Beeten stand, dass die Rosen sich an den Rändern kräuselten, rannte vorbei am verwilderten Park der Burg, die Bohnengärten entlang, rannte durch die Felder, durch Kohl- und Porreegeruch an den Rhein, dem Notstein entgegen. Wirre Gebete, vom Schluckauf zerhackt, Vaterunser und GegrüßetseistduMaria, einmal, zweimal, siebenmal, nur nicht denken, nur keine Wörter hereinlassen, die zur Lichtung führen, zudecken, zudecken, Wörter drauf, wie Erde auf einen Sarg, zuschaufeln mit Vaterunser und GegrüßetseistduMaria, weiche, warme, wohlige Wörter, heilige Wörter, einfache Wörter, alle Wörter der Welt, nur keine Wörter, die zu der Lichtung drängen, in mich dringen, nur zudecken, Wörter, die zudecken, zudecken, bis sie die anderen ersticken, die auf die Lichtung zerren, was ist eine Lichtung, was ist dort geschehen? Keine Wörter gibt es dafür, keine Münder, keine Ohren für die Wörter, die auf die Lichtung hetzen, Wörter, mein Schutz und Schirm, O Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund, einmal, zweimal, siebenmal, o Herr, nein keine Herren, nie wieder Herren, o Herr, ich bin nicht würdig, nie wieder Herren, ein harter Schluckauf warf mich vornüber, ließ mich stolpern, da, die Großvaterweide, ich kroch hinein, tief hinein unter die

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