Aufbruch - Roman
nahe kommen konnten. Ich schämte mich vor ihnen. Verschmähte das Sakrament des Lesens, wie die sieben anderen. Ich verstieß die Bücher aus meinem Leben, wie ich aus dem Leben verstoßen war. Lesen war der lebendigste Teil meines Lebens gewesen; wo ich eins mit mir war, mit mir und der Wirklichkeit, die ich erlas. Nichts mehr davon!
Auf den Speicher mit ihnen, den süßen Versen vom Lieben und Vergehen, Willkomm und Abschied, verlassenen Mägdelein, zerbrochenen Ringlein, kaputten Herzen.
Ab in die Kiste mit all dem Sprengstoff, weg mit Rilke und Mörike, Eichendorff, Trakl und Hofmannsthal. Dem jungen Goethe, dem Heine der frühen Lieder. Noch ihre Schatten hätte ich mir am liebsten ausgerissen, mit dem Skalpell aus meinem Gehirn geschnitten. Sie verstanden es - und wie! -, ihre Worte in mein Herz zu schnellen, bevor der Verstand ihrer gewahr werden und die so süß getarnten Giftpfeile abprallen lassen konnte.
Ich verbot den Dichtern den Mund. Einzig Schiller blieb. Und ein Häuflein Reclam-Heftchen wie der trotzige Trupp einer versprengten Armee. Nur, was ich durch meinen Verstand filtern und durch die Notbremse Ironie stoppen konnte. Abgeklärt wie eine Krankenbrühe erreichten die Dichter mich, keines ihrer Worte drang mir ins Herz.
Rückhaltlos vertraute ich nur noch den Kadern der Lexika, Peters Pflanzenbuch, Godehards Buch von den Steinen. Sie gewährten Zuflucht in sicher gefügten Sätzen. Ihnen konnte ich mich arglos überlassen. »Der Mantel der Erde ist hauptsächlich aus Gesteinen aufgebaut, die in einem ewigen Kreislauf
miteinander verbunden sind. In Sedimentgesteinen sind meist Fossilien eingebettet. Fossilien sind die Spuren oder Überreste verstorbener Organismen vergangener Zeiten …«
Wie Baldrian besänftigten solche Sätze mein Gemüt, Tatsachen, die mich niemals überwältigen könnten. Kein Spalt zwischen Wort und Ding, durch den sich Gefühle hätten drängen können. Nur das kühle Auge des Verfassers.
Bei Maternus hatte es sich schon herumgesprochen: Dat Hilla hätt dat Hicksen.
»Jo, bissjen blass bis de ja noch«, nahm mich Lore Frings gleich unter ihre Fittiche, als ich am nächsten Morgen meine Sachen ins Spind hängte, und zu den Frauen gewandt: »Dat es keine Quatsch, dä Papst …«
»… es am Hickse jestorwe«, ergänzten die Frauen den Satz im Chor und lachten.
In den vergangenen Jahren hatte ich hier einiges gehört, was nicht in meinen Büchern stand. Jedenfalls nicht so. Doch was immer auch die Frauen erzählten, ich hatte es nicht anders für wahr genommen als die Geschichten aus meinen Büchern. Ihre Wirklichkeit, die der Frauen und ihrer Geschichten, ging mich nichts an. Jetzt war das anders. Jetzt war ich eine von ihnen.
So, wie sie heute in der Mittagspause die Köpfe zusammensteckten, wusste ich gleich, dass es wieder einmal um Männer ging, die nicht so wollten, wie sie sollten. Dräckskääls. Seit wir den Prokuristen in die Flucht geschlagen hatten, nahmen die Frauen mir gegenüber kein Blatt mehr vor den Mund. Heute ging es um Erika, die wegen einer Bauchfellentzündung krankgeschrieben war.
»Von wejen Bauchfellentzündung«, höhnte Anita. »Da war wat janz anderes im Bauch.« Sie hatte es nötig! Vor drei Jahren hatte man sie hier halbtot aus einer Blutlache gezogen.
»Sie machen et aber auch all falsch«, dozierte Traudchen Kradepohl. Bis zum Tod Doktor Zehnders aus Strauberg hatte sie dessen Praxis geputzt und galt daher in medizinischen Fragen als Kapazität. »Mit ner Stricknadel. Nä, nä, dat muss doch zu ner Blutverjiftung führen.« Traudchen sprach Dondorfer Platt, doch sobald es um die Wissenschaft ging, verstärkte sie ihre Autorität durch Hochdeutsch, so rein, wie die Zunge es hergab.
»Un wat häls de von Seife?« Elsbeth war nun auch schon seit Jahren hier beschäftigt. Ihr aschiges Haar, vom häufigen Blondieren brüchig, stand wie Krepppapier um ihr rosiges Gesicht.
»Seife?« Traudchen wiegte bedächtig den Kopf. Sie war schon hoch in den Fünfzigern, bekam Witwenrente, langweilte sich aber zu Hause und ging allmorgendlich zum Pillenpacken wie andere Gassi mit dem Hündchen. »Ihr seid meine liebste Familie«, sagte sie gern, und so behandelte sie die Frauen auch. Kein Montag verging ohne ein ordentliches Stück Selbstgebackenes von Traudchen, und am Monatsende, wenn der Abschlag den Wochenlohn aufbesserte, gab sie im Café Haase einen aus.
»Seife? Wat meins de mit Seife?«
»Na, wat wohl. Waschen sischer nit! Trinken!
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