Aufbruch - Roman
nichts zuleide. Dieses Dach überm Kopf, die Altstraße 2, hatte Bestand.
Ich nahm nicht wie sonst das Fahrrad. Unter die Füße nahm ich den Weg, Schritt für Schritt, frei sollten meine Blicke über Häuser und Menschen schweifen, über Orte und Erinnerungen. Im Rhythmus meines Körpers, allein mit der von mir selbst erzeugten Geschwindigkeit. Ich mochte meine Blicke nicht beschleunigen, nichts aus dem Augenwinkel betrachten: In den Blick fassen wollte ich. Festhalten. Allein auf mich gestellt. Meinen eigenen Blick, mein eigenes Tempo, mein eigener Transporteur. Keine Flüchtigkeit. Ich wollte Dauer. Festhalten und loslassen, wie es mir gefiel. Ich wollte nirgendwohin, nur ankommen da, von wo ich aufgebrochen war, Altstraße 2. Wollte mir einprägen, was da war und was da gewesen war. Da gewesen sein wird.
Schreib auf, was du hörst und siehst. Schmecken, riechen, fühlen, hören und sehen nach meinem Maß.
Wie meine Westentasche, sagt man, wenn etwas sehr vertraut ist. Doch gehört man wirklich an einen Ort oder sogar zu einem Ort, so ist das mehr. Es ist, als habe man mit einem fühlenden und denkenden Wesen zusammengelebt. Eine Vertrautheit, wie sie in einer treuen Freundschaft, besser, Kameradschaft, reift. Denn das Dorf war ja nichts, was ich mir hatte aussuchen können wie einen Freund. Es war Kameradschaft. Wir hatten miteinander auskommen müssen. Durch dick und dünn.
So in Gedanken versunken, war ich schon ein gutes Stück die Dorfstraße hinaufgegangen. Ich kannte jedes Haus, und die Häuser kannten mich. Die von Jalousien wie mit schweren Lidern bedeckten Fenster glichen wissenden Augen, die ihre Neugier nicht allzu deutlich zeigen wollten. Was hatten sie nicht alles beobachtet in meinen Jahren, die mir plötzlich lang und abenteuerlich und verwegen vorkamen.
Schon hatte ich den Schinderturm erreicht, ohne einem bekannten Gesicht zu begegnen. Längst kannte ich nicht mehr alle Leute im Dorf, und Mutter und Tante freuten sich, wenn sie auf einen vom »alten Schlag« trafen.
Wäre er mir auf offener Straße begegnet, ich hätte es geschafft, ihm auszuweichen, notfalls in einen Vorgarten, klingeln an irgendeiner Haustür. Er aber lief geradewegs in den Torbogen des Schinderturms hinein, aus dem ich eben herauskam. Buchstäblich in die Arme, die er in froher Überraschung ausbreitete, rannte ich ihm. Kurz und kräftig drückte mich Kreuzkamp an seinen Bauch, der bis zur Brust hinauf sich wölbte und hielt mich dann an beiden Ellenbogen auf Armeslänge entfernt. In seinem resoluten Zugriff wurde ich wieder zum kleinen Mädchen, das er zur ersten heiligen Kommunion geführt, zum Lehrling, dem er aufs Gymnasium verholfen hatte. Stud. phil. hatte ihm für seine Hilfe bei der Zimmersuche nicht einmal gedankt. Kreuzkamps Augen blitzten im alten, sein Gebiss im neuen Glanz, die Backen bebten vor Vergnügen, als er seinen
Fang betrachtete und sich unverhohlen an meiner Verlegenheit weidete. Hoffentlich hat er es eilig, dachte ich, während ich freudige Überraschung heuchelte und mich aus seinem Griff zu befreien suchte. Vergeblich. Vielmehr rüttelte Kreuzkamp mich an den Ellenbogen ein bisschen durch, verkündete fröhlich, er habe alle Zeit der Welt, und führte mich, eine Hand auf meiner Schulter, Richtung Georgskirche, Richtung Pfarrhaus ab. Und vorbei.
Es ging an den Rhein, ans Wasser. Unverdrossen, zielstrebig stapfte Kreuzkamp voran, wie er die ganzen Jahre auf seiner Lebensbahn Kirche und Welt vorangestapft war. Quietschten seine Sohlen wie in der Kirche? Doch dazu brauchten sie wohl den steinernen Widerstand des geweihten Ortes.
Schweigend durchquerten wir die Auen. Kreuzkamp, einen halben Schritt hinter mir, ließ meine Schulter nicht einen Augenblick lang los, schwer und warm lastete die Pastorenhand auf mir, und allmählich wurde es feucht unter dem Stoff meiner dünnen Sommerbluse.
»Lange nichts von dir gehört, mein Kind«, brach er endlich das Schweigen. »Meine Kinder«, hatte der Aushilfskaplan uns Beichtlinge gern genannt und gesagt, dass Gott seine Hand über uns hielt, eine Hand, mit der sein Stellvertreter etwas in meine Kniekehlen gebohrt hatte, glatt und hart zuerst, dann schleimig und feucht und dann ein Taschentuch.
Mein Schluckauf kam so gewaltig, dass Kreuzkamps Hand von der Schulter zuckte, und ein paar Krähen, die am Feldrand pickten, auseinanderstoben von diesem Laut, der mir hoch und spitz aus der Kehle spritzte wie ein unfreiwilliges Jauchzen.
»Nase zuhalten und
Weitere Kostenlose Bücher