Aufbruch - Roman
eine doppelt mannskopfgroße, schwarzgraue Kugel.
Die Mutter trat neben mich ans Fenster. Der Aufsatz des Baggers drehte sich, der Arm kehrte sich ab vom Haus, blieb stehen. Dann drückte offenbar jemand einen Knopf, der Stahlhals schwenkte dem Haus entgegen und mit ihm Seil und Kugel, eine Bewegung von vollendeter Eleganz. Träge wie in Zeitlupe schwang die Kugel ihrem Ziel entgegen. Die Mutter neben mir holte tief Luft, oder rang sie nach Luft?, jedenfalls brauchte sie Luft, viel Luft, wie sie so hörbar den Atem einsog und wieder entließ. Im Atemholen liegt zweierlei Gnade, aber hier lag nichts in der Luft, was auch nur entfernt an Gnade erinnerte, hier war alles Untergang und Zerstörung, als die Stahlkugel ihren Bogen abschloss, ihr Ziel fand, ihren Zweck erfüllte mit einem Laut, der klang wie der Schlag einer riesigen Trommel. Aufprall einer riesigen Kegelkugel. Gedämpft vom wilden Wein, folgte dem Knall, dem donnernden Bersten und seinem Nachhall, ein Poltern und Krachen wie in einem überdimensionalen Kinderspiel. Unwillkürlich zuckte der Mutter die Hand an die Stirn, schlug die Hand ein Kreuz, verlegen sah sie mich aus dem Augenwinkel an. Ich starrte auf die Rankenverschlingungen des wilden Weins, die sekundenlang grünschwankend in der Luft standen, ehe sie in einer Staubwolke den Brocken der Wand mit unentschiedener Bewegung hinterhertorkelten. Staub hochauf, höher, als das Haus je gewesen.
Ich schielte zur Mutter hinüber. Die presste die Lippen zusammen und ballte die Fäuste in hilflosem Protest gegen das
da draußen. Sie wandte sich ab: »Dat es doch nit zum Ansehen«, sagte sie. »Dat es doch schlemmer wie im Kriesch.«
Ihre Schritte gingen unter im Motorengeräusch des Baggers, der sich ein kurzes Stück vorwärtsbewegte, einen neuen Winkel zu gewinnen. Wieder brachten sich die beiden Arbeiter in Sicherheit, bevor die Kugel ein zweites Mal gegen den roten Backstein krachte, der nur noch hier und da, wie notdürftig bekleidet, von staubigem Laub und zerfetzten Ranken bedeckt war. Warum tat er so weh, dieser Schlag vor die alten Steine? Warum krampfte mein Herz sich zusammen, als knallte die Kugel mir vor die Brust? Nur die Treppe war der Kugel noch entgangen. Aus Schutt und Mauerresten führte sie geradewegs in den Himmel.
Eine Woge von Zuneigung erfasste mich, Zärtlichkeit für all die Treibhäuser, Komposthaufen, Blumenrabatten. Das Erdbeerfeld. Die Himbeerhecke, das Weißdorngebüsch. Vor allem aber für das Haus, das hier zu Boden gezwungen wurde. Etwas für immer vertilgt, das mir so lange Geheimnis und Vornehmheit bedeutet hatte.
Immer dünner und durchscheinender war die alte Frau Schönenbach mit den Jahren geworden, bis ihre edlen Kleider, wenn sie sonntags an die Kommunionbank schlurfte, in verzagten Falten an ihr herabfielen. Dann kam der Pastor zu ihr ins Haus, und dann war sie tot.
Seltener noch als das Haus der Bürgermeisterfamilie hatte ich das ihre betreten. Beide Wohnungen waren einander ähnlich gewesen, mit ihren dunklen, schweren Möbeln, den bodenlangen Stores, den Gemälden und Vitrinenschränken. Von der Kredenz, hatte die alte Frau Schönenbach bei meinem letzten Besuch das Hausmädchen gebeten, solle sie ihr die Silberschale mit den Erdnüssen reichen. Kredenz, ein Wort, vornehm und entrückt, und nicht mehr zu gebrauchen wie das Haus, in dem es gedient hatte. Wörter können die Dinge eine Weile überdauern. Dann sterben auch sie. Wie Dörfer, die, von den Menschen verlassen, noch eine Weile auf der Landkarte zu finden sind.
Ein neues Geräusch, heller als die dumpfen Schläge gegen die Steine, ließ mich zusammenfahren. Die Treppe splitterte in alle Richtungen. Ich wandte mich ab. In der Erinnerung würde der wilde Wein weiter bis unter die Dachrinne ranken, würden sich die Gardinen aus weitgeöffneten Fenstern hinaus zu den grünen Fensterläden bauschen, Papageien und Meisen Agaven und Oleander in der verglasten Veranda umkreisen, Eichhörnchen an Ananas knabbern. Nur in den Bildern im Kopf. Zorn stieg in mir auf. Etwas wurde zerstört, das mir gehörte. Das jedem gehörte, der im Anblick dieses Hauses großgeworden war. So sicher war ich gewesen, dass, wenn ich aufbrach von hier, wenn ich mich veränderte, dort, wo ich wegging, alles so blieb, wie es war. Das Dorf, die Familie ein unbewegter Hintergrund, vor dem ich meine eigene Wandlung erkennen, messen und genießen konnte.
Ich schloss das Fenster und machte mich auf den Weg durchs Dorf. Mir geschah ja
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