Aufbruch - Roman
schlucken, schlucken«, vernahm ich Kreuzkamp durch einen zweiten Hickslaut, kaum bezähmbarer als der erste. »Oder noch besser, hier.« Kreuzkamp blieb stehen, nestelte in seiner Rocktasche, knisterte ein silbernes Päckchen auseinander und brach aus einer dunkelbraunen, fast schwarzen Fläche ein Stück heraus, ähnlich einem Schokoladenriegel, doch ohne dessen kästchenförmige Unterteilungen.
Er drängte mir die gezackte Scheibe in die Hand und schob sich selbst ein Stück in den Mund. Verdrehte genüsslich die Augen, schnalzte. Vorsichtig biss ich ein Stück von meinem Teil ab.
Glatt, seidig, kühl ließ sich der schwarze Splitter gegen den Gaumen drücken, wo er unter der Zunge erweichte und Geschmack annahm. Gallebitter. Ich spuckte. Übersprühte ein Büschel weißer Margeriten mit braunem Schleim.
»Wollen Sie mich vergiften?« Ich schnappte nach Luft.
Kreuzkamp schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Los, mach schon. Den Rest auch noch. Ist doch nur Schokolade. Allerdings Schwarzbitter.«
Ich sah den Pastor verständnislos an.
»Fünfundneunzig Prozent Kakao. Das machen die unten in Afrika. Und die Missionare bringen immer ein paar Tafeln mit. Für Kenner.«
Gehorsam schob ich mir den Rest in den Mund. Kaute und schluckte und blieb dabei: Rattengift. Aber der Schluckauf war weg.
Wir setzten uns wieder in Bewegung. Die Böschung hinauf fiel Kreuzkamp das Gehen schwer. Kehrt machte er nicht.
»Also, Hildegard«, begann er von neuem, »das ist ja schön, dass du jetzt nach Köln ziehst. Sicher das Beste für dich.«
»Danke auch«, brachte ich zwischen den neuen Zähnen hervor.
»Nichts zu danken«, wehrte Kreuzkamp ab und fuhr sich mit einem nicht mehr ganz frischen Taschentuch über die Stirn. »Ich bin froh, dass du so gut unterkommst. Wann ist es denn so weit?«
»Nächste Woche. Der Bertram fährt mit.«
»Ach ja, du hast ja auch Gepäck. Bisschen was zum Anziehen.« Kreuzkamp musterte meine Hose, das weite Hemd, schüttelte den Kopf.
Oben auf dem Damm rang er nach Luft und brauchte wieder sein Taschentuch.
»Gehen wir noch ein Stück«, sagte er, und ich war froh, als er den Weg zum Notstein einschlug. Später würde ich allein ans Wasser gehen, zur Großvaterweide.
Nun musste es kommen. Und es kam. Doch jetzt war ich gefasst und vorbereitet. Bitter füllte der Geschmack der Schokolade die Mundhöhle aus und ließ die Verbindung zum Schluckauf, zur Nacht auf der Lichtung nicht abreißen.
»Seit dem Gymnasium hat man dich ja immer seltener in der Kirche gesehen.« Kreuzkamp sprach leise, was ungewöhnlich war, und er sah auf den Weg, als spräche er zu seinen Schuhen, die schwer und unbeholfen den schmalen Pfad zwischen den Grasbüscheln einzuhalten bemüht waren.
Er machte eine Pause, und mir fiel nichts ein, was ich hätte erwidern können. Bitter, dachte ich, Amara sollte ich heißen, und wie mir alles bitter geworden war seit der Nacht auf der Lichtung.
»Ob du noch beichten gehst oder zur Kommunion? Ich weiß es nicht.«
Unten in den Rheinwiesen stand der Schäferkarren, ein zottiger schwarzer Hund strich um die Herde; die meisten Schafe lagen träge in der Sonne. Unweit davon lehnte der Schäfer auf seinem Stock, fehlte nur das Lamm um die Schultern.
»Seit einem ganzen Jahr, genau seit dem letzten Sommer, hat dich keiner mehr, ich nicht und der Herr Kaplan auch nicht, beim Beichten oder an der Kommunionbank gesehen.«
Der Schluckauf stieg hoch, die bittere Kehle hinauf unter die bittere Zunge; ich drängte ihn hinter die bitteren Lippen zurück.
»Keine Zeit«, stieß ich hervor und setzte meinen Widerstand wie ein riesiges Segel. Alles, was der Pastor nun vorbringen würde, bliese Wind hinein oder entgegen, Segeln gegen den Wind, mein Trotz würde Fahrt aufnehmen bis zur Flucht in den Orkan.
Kreuzkamp schnaufte verächtlich. »Das glaubst du doch selber nicht. Für ›keine Zeit‹ laufe ich hier nicht mit dir am Rhein entlang.«
Was sollte ich Kreuzkamp sagen? Was hätte ich ihm vor der Nacht auf der Lichtung gesagt? Dass Gott für mich so etwas war wie ein entfernter Verwandter, ein reicher Erbonkel, an den man sich wenden konnte, wenn es einmal hart auf hart kam. Hart auf Hart. Ja. Der helfen konnte. Ja. Im Rahmen seiner Möglichkeiten. Die Nacht auf der Lichtung hatte nichts mit diesem Gottvater zu tun. Wofür es keine Worte gab, keine Wörter geben durfte, war niemand zuständig. Weder Kreuzkamp noch der, den er auf Erden vertrat. Mit einem Gott, der für die, die
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