Aufbruch - Roman
langgedehnt. »Und wieso nicht, wenn ich bitten darf?«
»Ich, ich«, jetzt durfte mich mein Mut nicht verlassen, ich musste bitten, fordern, »ich will ein Zimmer für mich allein.«
»So, will sie das.« Fräulein Oppermann legte die Augengläser über dem Kreuz auf der Brust ab. »Will sie das. Das zahlt die Kirche aber nicht. Ein Zweibettzimmer ist natürlich billiger. Schade.« Sie hob die Gläser wieder an die Augen, und ich fühlte mich schrumpfen, austrocknen, Fossil, Versteinerung.
Doch ich hielt dem durchdringenden Blick des Fräuleins stand: »Ein Zimmer für mich allein.«
Daraufhin war Fräulein Oppermann in ihrer Portierskabine verschwunden und hatte telefoniert. Als sie herauskam, ihre hellen Augen wässrig vor Begeisterung, hatte ich gewusst, noch ehe sie den Mund auftat: Es war geschafft.
Meinem »dicke Kopp« verdankte ich, dass Fräulein Auguste Oppermann heute den ganzen Gang entlangmarschierte bis zur letzten Tür.
»Eigentlich«, sagte sie und steckte den Schlüssel ins Schloss, »sollte das mal ein Gepäckraum werden.«
Fräulein Oppermann öffnete und trat zurück. »Nun, ich lasse Sie beide hier allein. Machen Sie es sich gemütlich.«
Ihre Ledersohlen verhallten, als habe sie es eilig davonzukommen.
Bertram, mit dem Koffer, ging voran. Ich trat hinter ihn. Nebeneinanderstehen konnte man nicht. Vor dem Fenster, schmal und fast unter der Decke wie in den Gastarbeiterbaracken, stand ein Schreibtisch, davor ein Stuhl. Links an der Wand ein schmales Bett, tagsüber als Sofa zu benutzen, an der Wand gegenüber ein Kleiderschrank, daneben ein niedriges Regal mit zwei Fächern. Neben der Tür ein Waschbecken, über der Tür das Kruzifix.
Bertram hob den Koffer auf die Liege. »Nicht viel größer als der Holzstall«, konstatierte er knapp. »Aber alles da, was du brauchst.«
Und für mich. Ganz allein für mich. Vorsichtig, als sei nicht sicher, dass der Stuhl vorm Tisch auch wirklich aus wirklichem Holz war, ließ ich mich auf seiner Kante nieder. Bertram setzte sich neben den Koffer.
»Soll ich dir beim Auspacken helfen?«, fragte er.
Ich knipste die Schreibtischlampe an und wieder aus, zog die Schublade auf und zu. Durch das schmale Fenster brach die Sonne einen Lichtsteig über Tischplatte und schwarzgrau gefleckten Kunststoffboden, dem Bruder direkt auf die Schuhe.
»Das bisschen Zeug«, sagte ich. »Das mach ich schon. Komm, ich bring dich zum Zug. Wir gehen zu Fuß.«
Unsere Einkaufsfahrten mit Mutter und Tante hatten immer am Neumarkt geendet. Dom, Hohe Straße, Schildergasse mit Kaufhof, C&A und Hertie am Neumarkt waren unsere Stationen, letztere nur, wenn eine der Cousinen dabei war.
»Warst du hier eigentlich schon mal am Rhein?«, schrie ich gegen das Rasseln der Straßenbahn.
»Voriges Jahr.« Bertram riss sich die Krawatte vom Hals und steckte sie in die Hosentasche. »Mit der Klasse.«
»Ich noch nie. Den Kölner Rhein kenn ich nur von der Hohenzollernbrücke her. Aus dem Zug. Has de Lust?«
»Immer!«
Wir überquerten den Neumarkt, bogen in die Schildergasse ein.
»Seit wann fahren denn hier keine Autos mehr?«, stutzte Bertram.
»Seit diesem Jahr. Erste Fußgängerzone Kölns«, erwiderte ich, schon ganz großstädtisch.
»Also per pedes wie die alten Römer«, feixte Bertram. »Die sind hier auch schon rumgelaufen. Und die Ubier. Die durften hier mit römischer Erlaubnis siedeln. Caesar höchstpersönlich hat ihnen das erlaubt. Und sein Heerführer Agrippa hatte den Auftrag, um die Wohnungen der Ubier gemeinsam mit denen und römischen Soldaten einen Wall zu bauen. Schutz für das Oppidum Ubiorum, den Ort der Ubier. Und dieses Oppidum war hier.«
»Mensch, Bertram«, staunte ich, »das hast du aber parat! Alle Achtung! Dann hieß dieser Fleck hier erst einmal Oppidum Ubiorum? Woher weißt du das alles?«
»Klassenfahrt«, sagte Bertram. »War Voraussetzung. Willst du noch mehr hören?«
»Na klar! Und wie wurde daraus Köln? Erst doch mal Colonia. Oder?«
»Also«, Bertram schnaufte, und ich wusste, er kam in Fahrt. »Eines Tages hat die Frau des damaligen römischen Kaisers Claudius ihren Mann gebeten, in dem schönen Ubierort am Rhein eine Siedlung für alte Soldaten, verdiente Veteranen, errichten zu lassen. Diese Frau hieß Agrippina.«
»Agrippina?«, unterbrach ich Bertram. »War das nicht die Mutter von Nero?«
»Ja, ja«, bestätigte Bertram unwillig. »Das auch. Soll ich nun erzählen oder du? Also: Und weil die Gegend so schön war, zogen
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